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Leipzig: Neuer Druck auf dem Polizeikessel

Frag den Staat hat Dokumente zur Massenverhaftung von 1300 Demo-Teilnehmern veröffentlicht

Nach Darstellung der Polizei hätten die Demonstranten diesen Kessel am »Tag X« auch verlassen können.
Nach Darstellung der Polizei hätten die Demonstranten diesen Kessel am »Tag X« auch verlassen können.

Insgesamt 1323 Personen hatte die Polizei in Leipzig beim sogenannten Tag X am vergangenen 3. Juni eingekesselt, eine der größten Freiheitsentziehungen in der deutschen Geschichte. Einige der Eingeschlossenen wurden erst nach elf Stunden »bearbeitet«. Sie mussten ihre Personalien abgeben und wurden erkennungsdienstlich behandelt. Zur Begründung hieß es, dass es aus einer Versammlung zu Angriffen auf die Polizei gekommen sei.

Nicht alle Eingekesselten waren aber Teilnehmer der Demonstration, die sich gegen ein Urteil gegen die Studentin Lina E. und drei weitere Personen sowie Demonstrationsverbote richtete. Unter ihnen waren viele Jugendliche und mindestens zwei Kinder, außerdem Anwohner. Beobachter wie etwa die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke) verweisen auch darauf, dass die Polizei keine Möglichkeit ließ, die Versammlung vor der polizeilichen »Umschließung« zu verlassen. Im Polizeikessel herrschten menschenunwürdige Bedingungen, über Stunden fehlten Toiletten, Essen und Trinken; viele Menschen waren bis zum Ende der Maßnahme gegen fünf Uhr morgens unterkühlt.

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Die Plattform Frag den Staat hat nun Papiere der Polizei veröffentlicht, die ein genaueres Bild des Einsatzes geben. Gemäß dem am 1. Januar 2023 in Sachsen in Kraft getretenen Transparenzgesetz sind Behörden zur Herausgabe solcher Dokumente verpflichtet – soweit keine Ausnahme gilt. Sicherheitsbehörden können etwa die Antwort verweigern, wenn sie die öffentliche Sicherheit gefährdet sehen. »Seit Juni haben wir daran gearbeitet, die Hintergründe dieses umstrittenen Polizeieinsatzes öffentlich zu machen«, sagt der Anfragesteller Aiko Kempen von Frag den Staat gegenüber »nd«. Die Polizei habe sich jedoch zunächst geweigert und mehr als sechs Monate für die Bearbeitung benötigt.

Laut Kempen belegen die Dokumente, dass der Polizei am »Tag X« immer wieder der Überblick fehlte. Laut einem internen Protokoll hatte die Einsatzleitung anfangs von 300 »festgesetzten« Personen gesprochen und diese Zahl bis in die Nacht schrittweise heraufgesetzt.

Zudem widersprechen die neuen Informationen den öffentlichen Mitteilungen am Tag der Demonstration. So hatte die Polizei verlautbart, dass die Entscheidung zur Einkesselung erst gegen 18.30 Uhr getroffen worden sei. Laut dem Protokoll ordnete der zuständige Polizeiführer jedoch schon um 17.24 Uhr an: »Keine Personen (…) weglassen.«

»Wir ringen seit Juni 2023 um Aufarbeitung der Geschehnisse«, sagt die Linke-Abgeordnete Nagel zu »nd« und fordert die Einstellung der Verfahren gegen Unbeteiligte, sofortige Löschung aller Daten, zudem eine Entschuldigung und Entschädigung durch die Polizei. Untersucht werden müsse auch, ob sich Beamte in Zivil als sogenannte Tatbeobachter rechtswidrig in die angemeldete Versammlung gemischt haben.

Bei der Polizei ist man sich keiner Schuld bewusst. Die damalige »Umschließung« begründet ein Sprecher gegenüber »nd« mit einem »situationsbedingten, taktischen Handeln der Einsatzkräfte gegenüber Störern«. Es habe sich um eine »doppelfunktionale Maßnahme« gehandelt, die zunächst der Gefahrenabwehr gedient habe und nach Vorliegen eines Anfangsverdachtes des schweren Landfriedensbruchs in die Strafverfolgung »überging«.

Der Polizeirechtler Clemens Arzt kritisiert diese Argumentation deutlich. Für die Maßnahme habe es keine rechtliche Grundlage gegeben. »Es ist völlig willkürlich, die Einkesselung einer derart hohen Anzahl von Menschen als strafprozessuale Maßnahme auszugeben.« Es habe sich am »Tag X« deshalb um eine rechtswidrige Massenfestnahme gehandelt. Gemäß Polizeirecht hätte dies nur erfolgen dürfen, wenn eine »unmittelbar drohende Gefahr« zu erwarten gewesen und die Versammlung zuvor von der Polizei aufgelöst worden wäre. Für eine derart heterogene Gruppe von 1300 Personen sei dies aber nicht zu begründen gewesen, sagt Arzt dem »nd«.

Die Justiz sieht das anders. Viele Betroffene haben beim Amtsgericht Leipzig die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung und deren Art und Weise (gemeint ist der Polizeikessel) beantragt. Der Ermittlungsrichter sollte auch die vielfache Beschlagnahme von Handys als rechtswidrig beurteilen. Bisher seien jedoch alle Anträge zurückgewiesen worden, so die Landtagsabgeordnete Nagel.

Nun könnte allen Betroffenen auch noch eine Speicherung beim Verfassungsschutz als »linksextrem« drohen. Frag den Staat will »Hinweise« gefunden haben, dass dieser Eintrag in eine bundesweite Datei erfolgen soll. Presseanfragen dazu beantwortet der sächsische Geheimdienst nicht. Im Eilverfahren zieht der Fragesteller Aiko Kempen deshalb vor Gericht.

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