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S-Bahn Berlin: Miese Laune zum 100. Jubiläum

Schlechte Performance und ein verkorkstes Ausschreibungsverfahren trüben die Stimmung bei der Berliner S-Bahn

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 7 Min.
Nicht nur die Ausschreibungswirren, auch die marode Infrastruktur der Berliner S-Bahn plagen Politik und Fahrgäste.
Nicht nur die Ausschreibungswirren, auch die marode Infrastruktur der Berliner S-Bahn plagen Politik und Fahrgäste.

Eigentlich müsste es ein Jubeljahr für die Berliner S-Bahn sein. Denn vor 100 Jahren, am 8. August 1924, begann mit der Aufnahme des elektrischen Betriebs zwischen Berlin und Bernau die Erfolgsgeschichte als elektrifizierte Stadtschnellbahn. Doch die Betreiberin, die S-Bahn Berlin GmbH, ist nicht so richtig in Feierlaune. Selbstverständlich werde gefeiert, sagt ein DB-Sprecher. »Gleichwohl gilt unsere volle Aufmerksamkeit der laufenden Ausschreibung von zwei Dritteln des S-Bahn-Netzes. Wir setzen alles daran, unser bestmögliches Angebot abzugeben«, heißt es weiter.

Eigentlich hätte das noch von der damaligen Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) im Mai 2020 gestartete Vergabeverfahren längst entschieden sein sollen. Doch bis heute liegen nicht einmal die verbindlichen Angebote der interessierten Unternehmen vor. Der von Günther damals verkündete »Schlussstrich unter die S-Bahn-Krise« scheint sich eher in ein weiteres Kapitel auszuwachsen. Derzeit warten alle Beteiligten gespannt auf den kommenden Freitag. Denn am 23. Februar will das Kammergericht endlich mündlich über die Klage des französischen Bahntechnikkonzerns Alstom gegen das Vergabeverfahren verhandeln. Ursprünglich war die Verhandlung für Ende Januar angesetzt. Aus »dienstlichen Gründen« hatte das Gericht den Termin noch einmal verschoben.

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Damit hat sich erneut die Frist für die Abgabe der verbindlichen Angebote der Bieter verschoben, von zuletzt 1. März auf nun 28. März, wie die Senatsverkehrsverwaltung auf Anfrage mitteilt. Im dritten Quartal 2024 soll nach aktuellem Plan feststehen, wer künftig die beiden Teilnetze betreibt und die Fahrzeuge liefert. Auf den Ost-West-Linien über die Stadtbahn soll der Betrieb mit den neuen Zügen schrittweise ab 4. März 2030 beginnen, auf den Nord-Süd-Linien durch den Innenstadttunnel soll das ab 11. Juni 2030 geschehen. Als sich die damalige rot-rot-grüne Koalition erstmals mit der Vergabe beschäftigte, war noch eine Betriebsaufnahme im Jahr 2026 vorgesehen.

In der Politik wächst die Sorge, dass die S-Bahn in ein paar Jahren erneut in eine Fahrzeugkrise rutschen könnte. Denn Alstom scheint entschlossen, bei einer Niederlage vor dem Kammergericht alle weiteren rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen zu wollen. Das könnte Jahre dauern.

»Sollte es weiterhin Verzögerungen bei der Ausschreibung geben, muss rasch ernsthaft eine Notvergabe für den Ersatz der Baureihe 480 geprüft werden. Die Fahrzeuge sind doch sehr in die Jahre gekommen«, sagt SPD-Abgeordnetenhausmitglied Sven Heinemann zu »nd«.

Eine Notvergabe für Teile des Betriebs könnte nur an die S-Bahn Berlin GmbH erfolgen. Sie hat noch einen bei Weitem nicht ausgeschöpften Rahmenvertrag mit Stadler und Siemens über weitere Fahrzeuge. Von jetzt auf gleich ginge aber auch das nicht. Denn die Wagen müssten an die aktuellen Standards angepasst werden. Es handelt sich bei der Baureihe 480 um noch 65 Zwei-Wagen-Züge einer zu Westberliner Zeiten für die BVG entwickelten Baureihe, deren jüngste Fahrzeuge 30 Jahre alt sind. Eigentlich hätten sie vergangenes Jahr ausgemustert werden sollen. Doch wegen des absehbaren Wagenmangels haben sie doch noch die Ausrüstung für die neue Signaltechnik ZBS bekommen und fahren nun auf der Linie S3.

Die Senatsverwaltung wiegelt ab. »Über das Vorliegen eines drohenden Fahrzeugmangels liegen derzeit keine belastbaren Erkenntnisse vor«, erklärt ihre Sprecherin Britta Elm dem »nd«. Die Züge der Baureihe 480 würden planmäßig zwischen 2029 und 2032 abgestellt werden. »Eine nochmalige Revision und ein längerer Einsatz der Fahrzeuge sind zum aktuellen Zeitpunkt aber nicht ausgeschlossen«, sagt Elm.

Im Dezember hat der Senat mit der S-Bahn Berlin auch vereinbart, dass die komplette 1000-Wagen-Flotte der Nachwende-Baureihe 481 erneuert werden soll. Ursprünglich hätte nach etwas über 600 Wagen Schluss sein sollen. Die Verzögerungen haben auch die Kalkulation durchgewirbelt. So geht das Landesunternehmen, das Eigentümer der Fahrzeuge werden soll, in einer »nd« vorliegenden internen Präsentation inzwischen von 5,4 Milliarden Euro Kosten für die zu beschaffenden mindestens 1400 neuen Wagen aus. Bisher wurde mit 2,8 Milliarden Euro für etwas über 1300 Wagen kalkuliert. Das liegt unter anderem an den massiv gestiegenen Zinsen. Denn die Fahrzeuge sollen über Kredite finanziert werden. Die Herstellerpreise für Eisenbahnwagen haben sich jedenfalls in dem Zeitraum nicht allgemein verdoppelt.

Die Verzögerungen der Vergangenheit liegen nicht nur an der Alstom-Beschwerde. Doch inzwischen ist sie der Hauptgrund dafür. Schon die Vergabekammer hatte sich satte 15 Monate für die Behandlung der einem Gerichtsverfahren vorgeschalteten Rüge Zeit gelassen. Alstom zweifelte ganz grundsätzlich an, dass das Verfahren unter »fairen Wettbewerbsbedingungen« stattgefunden hatte. Über 1000 Seiten an Schriftsätzen hatte jede beteiligte Seite in dem Streit verfasst.

Dass das Vergabeverfahren ein Einfallstor für juristischen Streit werden würde, war bereits vorab zu ahnen. Für jedes der Teilnetze Nord-Süd und Stadtbahn gibt es zwei Lose. einerseits für den tatsächlichen Fahrbetrieb, andererseits für Bau und Instandhaltung der mindestens 1400 vorgesehenen Waggons für den Betrieb. Eine Perle an Komplexität ist das nur drei Seiten starke Dokument »Vorgehensweise bei der Auswahl des wirtschaftlichsten Angebots« aus den Vergabeunterlagen. Bewerbungen sind schließlich möglich für ein Angebot aus einer Hand für alle Teillose oder auch nur für ein Teilnetz. Oder nur für den Betrieb in zwei Netzen. Und so weiter. Neun Kombinationen insgesamt, deren Vergleichbarkeit das Dokument regeln soll.

Das Mammutverfahren ist so komplex geworden, weil bis zuletzt die Grünen mehr Wettbewerb wollten, um den Monopolisten Deutsche Bahn zumindest zu einem günstigen Angebot zu zwingen. SPD und Linke vertraten in der damaligen Koalition den Standpunkt, dass nur ein S-Bahnnetz aus einer Hand die nötige Stabilität garantiert und ein Verbleib bei der DB auch die größtmögliche Sicherheit für die Beschäftigten bietet. In Zeiten des auch im Eisenbahnbereich grassierenden Fachkräftemangels haben diese Argumente noch mehr Gewicht bekommen. Zuletzt waren mehrfach die Übernahmen großer Regionalbahnnetze durch Wettbewerber mit lange anhaltendem Chaos verbunden. Alstom, mit rund 16,5 Milliarden Euro Umsatz im Geschäftsjahr 2022/2023 der zweitgrößte Bahntechnikkonzern der Welt nach dem chinesischen Giganten CRRC, fühlt sich jedoch benachteiligt. Offenbar nicht zuletzt, weil ihm der Partner abhanden gekommen ist, mit dem er gemeinsam auch den Betrieb anbieten wollte.

Dem Vernehmen nach sind insgesamt nicht mehr viele Bewerber übrig. Direkt äußert sich in dem von strengen Verschwiegenheitspflichten geprägten Wettbewerbsverfahren allerdings niemand.

Bekannt ist, dass die DB-Tochter S-Bahn Berlin GmbH zusammen mit den Schienenfahrzeugherstellern Siemens und Stadler für den Betrieb des Nord-Süd- und Stadtbahnnetzes bieten will. Siemens und Stadler haben bereits die Züge der Baureihe 483/484 entwickelt, die seit Herbst vergangenen Jahres mit 382 Wagen den kompletten Betrieb der Ringbahnlinien übernommen haben.

Es kursieren Einschätzungen, dass die beiden Bahntechnikhersteller einen großen Vorteil daraus ziehen, bereits einen neuen Zugtyp für die S-Bahn konstruiert zu haben. Doch einerseits ist der Entwurf der auf dem Ringnetz fahrenden Züge bereits gut ein Jahrzehnt alt, so dass zwingend zahlreiche Anpassungen an den aktuellen Vorschriften- und Technikstand nötig werden, die in weiten Teilen einer Neukonstruktion entsprechen. Und andererseits verteilen sich die Entwicklungskosten auf mindestens 1400 Wagen, was deren Anteil am Endpreis relativiert. Eine hohe Anzahl im von Kleinserien geprägten Eisenbahnbereich.

Alstom ist auch kein Unbekannter vor Vergabekammer und Kammergericht. Um fast ein Jahr verzögerte sich die Vergabe des Auftrags für neue U-Bahnzüge der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), bis das Gericht schließlich im März 2020 die Klage abwies. Die ersten Vorserienfahrzeuge sind nach erheblichen Produktionsproblemen bei Stadler erst Anfang dieses Jahres bei der BVG eingetroffen. Seit Jahren gilt wegen des Wagenmangels ein Notfahrplan auf mehreren U-Bahnlinien.

Großen Verzug hat auch der seit diesem Jahr unter dem neuen Namen DB Infrago firmierende Netzbetreiber, die Stromversorgung der S-Bahn so auszubauen, dass die geplante, gegenüber heute deutlich größere Flotte überhaupt rollen kann. Erst zwischen November 2027 und September 2032 soll im sogenannten Kernnetz der nötige Ausbau folgen. Auf den Außenstrecken noch später.

Kummer haben die Fahrgäste der S-Bahn auch aktuell, denn seit 2021 erodiert die Betriebsqualität. In dem Jahr konnte zuletzt das vorgegebene Pünktlichkeitsziel von 96 Prozent mit einer Punktlandung erreicht werden. Von Januar bis Oktober 2023 waren nur noch 93,8 Prozent der Züge maximal drei Minuten und 59 Sekunden verspätet, was in der Statistik als pünktlich gilt. Satte 4,5 Prozent aller geplanten Fahrten sind 2023 ganz ausgefallen, weitere fünf Prozent teilweise. Das liegt auch an Fahrgästen, Fahrzeugstörungen und externen Einflüssen. Aber auch die Zuverlässigkeit des Netzes, also von Weichen, Signalen und Stromversorgung, geht deutlich nach unten. Was darauf hindeutet, dass nicht genug in die Instandhaltung investiert wird.

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