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Polizeigewalt bei LL-Demo in Berlin: Jetzt spricht das Opfer
74-Jähriger überlebte bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration erlittene Verletzungen nur mit Glück
»Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass die Polizei auf uns zukam«, erzählt der 74-Jährige im nd-Gespräch über die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 14. Januar in Berlin. »Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, wie ich auf der Intensivstation aufgewacht bin.«
Er hatte Glück und blieb am Leben. Die Demonstration wurde von Sanitäter*innen begleitet. Sie konnten den bewusstlosen Mann inmitten eines Ausbruchs von Polizeigewalt bergen und beatmen und seinen den Umständen entsprechend schnellen Transport ins Krankenhaus organisieren.
Wie wichtig der Faktor Zeit bei einer Diagnose wie der hier vorliegenden ist, erklärt ein Notarzt: Nimmt die Einblutung in das Hirngewebe mit der Zeit zu, wird das Gehirn durch den steigenden Druck eingeklemmt. »Der Tod ist dann umgehend zu erwarten«, sagt er. Selbst wenn der Patient nicht unmittelbar sterbe, sei die Prognose für sein Leben danach katastrophal: Es drohten eine komplette Lähmung von Armen und Beinen, Langzeitbeatmung und kognitive Störungen. Der beherzte Einsatz der Demosanitäter*innen und eine schnelle klinische Versorgung haben dem 74-Jährigen das Leben und zum Teil auch die Gesundheit gerettet. »Die Ärzte sind optimistisch, dass ich wahrscheinlich keine Epilepsie entwickeln werde«, sagt er und spricht dabei nur langsam. »Aber auf meinem linken Ohr werde ich wohl nie wieder richtig hören können.«
Der 74-Jährige war wie fast jedes Jahr seit dem Mauerfall aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin angereist, um der 1919 von rechten Freikorpssoldaten ermordeten Sozialisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu gedenken. Dieses Jahr sei es ihm aufgrund des Kriegs in Gaza und dem staatlichen Vorgehen gegen palästina-solidarische Menschen in Deutschland besonders wichtig gewesen, erzählt er. Seit Monaten sei er deswegen jede Woche auf die Straße gegangen. Doch eine so brutale Repression wie die der Berliner Polizei habe er in Nordrhein-Westfalen noch nicht gesehen. »Und das alles nur, weil ein Redner angeblich die Parole ›From the river to the sea, Palestine will be free‹ gerufen hat.« In Nordrhein-Westfalen hätte das Oberlandesgericht festgestellt, dass die Parole nicht illegal ist. »Sie soll doch nur sagen, dass alle Menschen – Juden, Muslime und Christen – friedlich in einem Land zusammenleben sollen!« Auf Bundesebene verfügte das Innenministerium hingegen ein Verbot der Parole, in Berlin ist sie je nach Zusammenhang verboten.
Anhand verschiedener im Internet kursierender Videoaufnahmen lässt sich rekonstruieren, wie es zu der lebensbedrohlichen Verletzung des Mannes kam. Die Aufnahmen zeigen, wie er allein mit einer großen roten Fahne auf dem Gehweg der Frankfurter Allee steht. Als zwei Polizisten direkt vor ihm auf die Straße stürmen, hebt er leicht seine Fahne an. Daraufhin dreht sich ein Bereitschaftspolizist um, reißt ihm die Fahne aus der Hand und schlägt ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Der 74-Jährige geht zu Boden. Der Polizist lässt den bewusstlosen, aus Mund und Nase blutenden Mann dann liegen, um sich wieder ins Getümmel zu stürzen.
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Zwar habe die Polizei in Ausnahmefällen das Recht, Gewalt anzuwenden, erzählt die Kriminologin und Juristin Laila Abdul-Rahman dem »nd« – aber nur, wenn alle anderen, milderen Mittel vorher ausgeschöpft wurden. Abdul-Rahman forscht an der Universität Frankfurt am Main über das Thema »Körperverletzung im Amt«. Ob der lebensbedrohliche Schlag ins Gesicht des 74-Jährigen aus juristischer Perspektive eine legale Anwendung von unmittelbarem Zwang war, zieht sie stark in Zweifel. »Auf dem Video ist zu sehen, dass der Mann eine Fahne hat, die er irgendwie bewegt«, stellt Abdul-Rahman fest. Die Polizei würde dies wohl schon als Angriff werten. »Aber selbst wenn man davon ausgehen würde, dass sich der Polizist bedroht gefühlt hat, stellt sich die Frage, ob der konkrete Schlag in dieser Intensität gerechtfertigt ist.«
Nur die Fahne des 74-Jährigen sicherzustellen, wäre jedenfalls ein denkbar milderes Mittel gewesen. Zudem hält es die Expertin für sehr problematisch, dass der Polizist den Schwerverletzten einfach liegen lässt: »Er hätte sicherstellen sollen, dass sich um den Verletzten gekümmert wird.«
Im Nachgang des Einsatzes kümmert sich die Polizei auf eine ganz eigene Art um den Schwerverletzten. Auf nd-Anfrage teilte Kriminalhauptkommissarin Anja Dierschke mit, dass gegen einen »unerkannt gebliebenen Polizisten« wegen Körperverletzung im Amt ermittelt wird. Auf Videoaufnahmen allerdings ist die Kennung des Bereitschaftspolizisten zu entziffern. Des Weiteren habe das Opfer laut Dierschke noch in der Frankfurter Allee ausgesagt, dass er »geschubst worden und unglücklich zu Boden gefallen« sei. Aber es wird auch gegen den 74-Jährigen ermittelt: wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.
Abdul-Rahman wundert sich darüber nicht. Ihre Forschungen ergaben, dass Polizist*innen teilweise auch »prophylaktisch« Anzeige wegen Widerstand stellen, wenn sie Gewalt gegen diese Person ausgeübt haben. »Die Gewalt muss ja auch im Einsatzbericht legitimiert werden.«
Während für eine Anzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oft nur Zeugenaussagen von Polizeibeamt*innen für eine Verurteilung ausreichen, verlaufen die meisten Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt im Sande. Kaum ein Anzeige landet vor Gericht. »Während durchschnittlich 60 Prozent aller Ermittlungsverfahren in Deutschland von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden, beträgt die Einstellungsquote bei Gewaltausübung durch Polizeibeamt*innen knapp 98 Prozent.« Werde Anklage erhoben, erfolge durchschnittlich in 80 Prozent der Fällen auch eine Verurteilung, erläutert Abdul-Rahman. Jedoch nicht, wenn es sich um Polizist*innen handelt: »Hier sind es nur circa 30 Prozent.«
»Ich bin froh, dass ich überlebt habe!« Der 74-Jährige schüttelt den Kopf und versteht nicht, warum jetzt gegen ihn ermittelt wird. Aber er kündigt an: »Falls sie mich anklagen, werde ich mich natürlich wehren.«
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