Wie tickt das Land?

In »Neue Dörfer« entwickelt Hans Thill eine Poetik abseits der Zentren

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Alle Welt redet und schreibt über die Stadt. Neben den Klassikern wie Paris, Venedig oder New York genießt die deutsche Hauptstadt inzwischen sogar eine derartige Beliebtheit, dass sich mit den vielen Prosawerken zu ihr gar ein eigenes Genre, der Berlin-Roman, entwickeln konnte. Und das Land? Hier besteht wohl aus Sicht des 1954 in Baden-Baden geborenen Peter-Huchel-Preisträgers Hans Thill dringender Nachholbedarf. Allen voran den kleinen Siedlungen tut man mit Ignoranz unrecht, weswegen er ihnen mit dem Band »Neue Dörfer« einen ganzen Textreigen zueignet. Als Leiter des Künstlerhauses Edenkoben, gelegen in den malerischen Weinbergen der Pfalz, ist er bestens vertraut mit den Stimmen und Gepflogenheiten abseits der urbanen Zentren. Seine »Kleine Prosa«, die man durchaus auch als lyrisch bezeichnen kann, erweist sich daher als Resultat eines genauen Hinhörens und -schauens.

Mal vernimmt er, wie die GERANIEN Wache/ stehen und vorm Scheunentor gelispelt wird», mal lauscht er dem dialektalen Singsang entlang der Flüsse. Dort erfährt man mitunter: «Wenn der Neckar schloft,/ schlofen auch all die Leit aus Gauangelloch». Und wenn nicht, dann schauen sie möglicherweise fern. Denn «das nächste Dorf», so die geradezu rondomäßige Einleitung jeder Miniatur, «hatte sein Leben/ vertan mit Dalli Dalli, all together now, nostalgischem Schunkeln/ in den Zelten. Später würfelte man um Gewänder und stach sich/ mit Darts. Trink Wasser wie das LIEBE VIEH und denk es wär Kram-/ bambuli. Am Dorfrand war man aber schon im Holundermodus:/ viel Fleisch, wenig Klamotten.» Und zudem sucht man Höflichkeit in diesen Gefilden vergebens.

Was sich in diesen und anderen Annäherungen an die Peripherie verdichtet, sind zum einen alltagssoziologische Beobachtungen, zum anderen reichlich satirische Schlitzohrigkeit. Hier dichtet einer mit unverstellter Komik. Warum? Weil er sie sich durchaus erlauben kann, schreibt er doch nicht von oben herab, sondern stets aus der Mitte der Bevölkerung zwischen Wald und Feld heraus. Er versteht die Ordnung der Dinge auf dem Land und findet dafür überdies eine passende Form. Alle Miniaturen sind im strengen Blocksatz verfasst. Da fällt nichts raus, da kippt nichts weg. Nur manchmal führt ein Galopp hinaus in die Prärie des Geistes.

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Glücklicherweise haben wir es bei den Thill’schen Dörfern eben auch mit zu erkundenden Kolonien der Poesie zu tun. Gewiss kann es dort vorkommen, dass Koffer eigenständig nach Hause gehen oder «hartnäckige FLOCKEN bei über/ siebzehn Grad» wehen. So eng einem die Siedlung im Klischeebild erscheinen mag, so weit greift diese verspielte Lyrik ins Fantastische und Imaginäre aus. Dann werden Zeiten und Räume übersprungen.

Bisweilen trifft man in den zahlreichen Anspielungen gar auf andere Dichter. So lässt einen etwa der Begriff «Leutschnigs» an den Gegenwartslyriker Jan Kuhlbrodt denken, der diese Formel beinah zu seinem Markenzeichen erklärt hat. Genauso schimmern hier und da auch kanonische Autoren vergangener Epochen durch. Einfach gestrickte Provinz? Die gibt es also nur woanders, jedenfalls nicht in diesen weit verzweigten Kartografien der Sprache.

Hans Thill: Neue Dörfer. Kleine Prosa. Poetenladen, 168 S., br., 19,80 €.

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