- Sport
- Barrierefreiheit
In jedem Stadion der Fußball-EM fehlen barrierefreie Plätze
Die Uefa bewirbt die Fußball-EM 2024 in Deutschland als inklusives Turnier. Interessenverbände zweifeln jedoch daran
Noch knapp 14 Wochen dauert es bis zur Fußball-Europameisterschaft der Männer. Nach 36 Jahren kommt das Turnier erstmals in diesem Sommer wieder zurück nach Deutschland. Doch für Fans im Rollstuhl ist es oft schwer, einen der begrenzten barrierefreien Plätze bei Sportveranstaltungen zu ergattern. Interessenverbände weisen in dem Zusammenhang darauf hin, dass der Bedarf an Rollstuhlplätzen in deutschen Fußballstadien zurzeit nicht gedeckt ist. Die Uefa hingegen betont immer wieder die Bedeutung von Vielfalt und Inklusion in ihren Strategiepapieren. Wie passt das zusammen?
Laut Zahlen der Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Linke-Abgeordneten André Hahn steht in keinem der zehn EM-Stadien die geforderte Anzahl an Rollstuhlplätzen zur Verfügung. Dabei sind diese in der sogenannten Musterversammlungsstättenverordnung eigentlich klar geregelt: In Stadien mit bis zu 5000 Plätzen muss ein Prozent dieser Kapazität für Rollstuhlfahrer bereitgehalten werden; bei größeren Stadien sind es 0,5 Prozent. Dass dies bei keiner der Austragungsstätten erfüllt wird, ist laut Hahn ein Armutszeugnis. »Wir brauchen endlich einen Goldenen Plan Sportstätten, um die Schaffung von Barrierefreiheit spürbar voranzubringen«, nutzt der sportpolitische Sprecher seiner Partei die Gelegenheit, eine seiner Lieblingsforderungen erneut ins Spiel zu bringen.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Auf Forderung der Uefa stehen während der Europameisterschaft rund 500 zusätzliche Rollstuhlplätze zur Verfügung. Dem Präsidenten des Deutschen Behindertensportverbandes zufolge ist dies jedoch nicht ausreichend. »Das ist lediglich ein symbolisches Zeichen, deckt jedoch nicht den eigentlichen Bedarf«, sagte Friedhelm Julius Beucher »nd«. Denn auch mit den neu geschaffenen Plätzen werden die in der Verordnung stehenden Zahlen noch nicht erreicht.
Auch im Olympiastadion Berlin gibt es offiziell ein Platzdefizit. Für die EM wird laut Bundesregierung die Anzahl der Rollstuhlplätze auf 202 erhöht, was immer noch eine große Lücke zu den in der Versammlungsstättenverordnung geforderten 400 Plätzen lässt. Die Betreiber des Olympiastadions verteidigen diese Zahlen damit, dass der Denkmalschutz des Gebäudes und die begrenzten finanziellen Mittel nicht mehr zuließen. Des Weiteren stellten die vorhandenen Plätze »den echten Bedarf der Interessengruppen dar«, der unter anderem in Zusammenarbeit mit Fanbeauftragten von Hertha BSC ermittelt worden sei. Der Klub bestätigte auf nd-Nachfrage die Darstellung, nach der zumindest in Berlin selbst »zu den Topspielen eine Auslastung von maximal 90 Plätzen« verzeichnet worden sei.
Ob die Nachfrage zur EM größer wird, ist derzeit jedoch noch völlig unklar. Auf nd-Anfrage schreibt die Uefa zwar, dass noch für alle EM-Spiele Karten für Rollstuhlfahrer erhältlich seien. Im offiziellen Verkaufsportal sind zurzeit jedoch keine Tickets verfügbar. Eine dritte Bewerbungsphase soll in diesem Frühjahr noch gestartet werden. Somit ist die Hoffnung auf die begehrten Plätze für im Rollstuhl sitzende Fußballfans noch nicht ganz erloschen.
Ein weiterer Grund für den schleppenden Ausbau: die fehlende Wirtschaftlichkeit. Durch die Schaffung von Rollstuhlplätzen entfallen einige Hundert andere Plätze ersatzlos. Das sind finanzielle Einbußen, die viele Veranstalter nicht tragen wollen. Immerhin: Die für die EM 2024 hinzugefügten Plätze in Berlin werden auch nach dem Turnier bestehen bleiben. Die Maßnahme ist nicht selbstverständlich, denn in vielen anderen Arenen sollen die geschaffenen provisorischen Rollstuhlplätze nach der EM wieder zurückgebaut werden. »Das empfinde ich als gaga. Das ist auch fast zynisch«, äußerte sich der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, gegenüber der »Sportschau« der ARD. »Zu sagen, wir machen das jetzt, weil wir es eben von außen gesagt bekommen – und dann bauen wir wieder zurück. Das ist auch nicht nachhaltig, es ist nicht professionell.«
Andererseits drückt selbst die Bundesregierung hier nicht aufs Gaspedal: »Es wird darauf hingewiesen, dass die Muster-Versammlungsstättenverordnung kein verbindlicher Rechtssatz ist, sondern ein Muster für die Versammlungsstättenverordnungen der Länder, bei denen auch die Aufgabe der Durchsetzung ihrer Verordnungen liegt.« Barrierefreiheit ist also Ländersache.
Und dennoch – im Bereich des Sports ist noch viel Luft nach oben, was Inklusion angeht. Laut dem Deutschen Behindertensportverband sind 90 Prozent aller deutschen Sportstätten nicht barrierefrei. Nicht nur Bund und Länder seien in der Pflicht, dieses Defizit zu beseitigen, so der Verband. Auch müsse ein größeres gesellschaftliches Verständnis für Menschen mit Behinderungen geschaffen werden, damit endlich Chancengleichheit für alle bestünde. Die EM hätte ein Zeichen dafür setzen können, sollte sie doch auch ein Motor für eine Modernisierung der Infrastruktur deutscher Stadien sein. Im Bereich der Barrierefreiheit aber stockt er noch.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.