Es geht bei der Stiko um Belege, nicht um Meinungen

Die Wissenschaftler in der Impfkommission arbeiten nach den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin

Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) ist ein eigentlich harmloser Erreger, der im Winter auftritt und typische Erkältungssymptome mit sich bringt. Übertragen wird es durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch, die meisten infizieren sich mehrmals im Leben. RSV wäre nicht der Rede wert, käme es nicht bei Kleinkindern – üblicherweise findet der erste Kontakt zum Virus vor dem Ende des zweiten Lebensjahres statt – mitunter zu schweren Verläufen mit Bronchiolitis und Atemnot, manche laufen blau an wegen eines verminderten Sauerstoffgehalts im Blut. Im Winter füllen sich die Kinderstationen mit RSV-Infizierten, in der ersten Nach-Pandemie-Saison wurden vielerorts sogar die Betten knapp. Laut der EU-Arzneimittelbehörde EMA ist RSV bei Kindern die häufigste Ursache für Klinikaufenthalte in Europa. Um Eltern diesen Schrecken zu ersparen, gab es bisher nur die Möglichkeit der prophylaktischen Einnahme des Antikörpers Palivizumab. Da dieses Mittel schwere Nebenwirkungen haben kann, wurde die Abgabe auf wenige Risikogruppen, insbesondere Frühchen mit einer chronischen Lungenkrankheit, beschränkt.

Nun aber besteht Hoffnung für alle Eltern: Die EMA hat vor einigen Monaten einen Impfstoff von Pfizer in der EU zugelassen, der einen sogenannten Nestschutz bieten soll: Geimpft werden Schwangere, die die Immunisierung an ihren Nachwuchs weitergeben. Die klinischen Tests hatten eine gute Wirkung gezeigt, die Nebenwirkungen waren das Übliche, vor allem Schwellungen an den Einstichstellen und Kopfschmerzen. Allerdings gab es eine Auffälligkeit: In der Impfstoffgruppe kamen Frühgeburten minimal häufiger vor als in der Kontrollgruppe, der ein Placebo verabreicht worden war. Der Unterschied wird zwar als nicht statistisch signifikant angesehen, dennoch hat die US-Medizinbehörde FDA das Vakzin erst ab der 32. Schwangerschaftswoche zugelassen. Die EMA hingegen gibt grünes Licht schon ab der 24. Woche.

Die Marktzulassung eines Impfstoffs durch die EMA ist das eine – hier wird geprüft, ob die Daten des Antragstellers bezüglich Wirkung und Nebenwirkungen plausibel und vollständig sind. Ob und wie genau der Impfstoff tatsächlich zugänglich gemacht werden soll, wird dann aber in den einzelnen EU-Staaten entschieden. Dabei kommt in Deutschland die Ständige Impfkommission (Stiko) ins Spiel. »Diese entwickelt Impfempfehlungen und berücksichtigt dabei nicht nur deren Nutzen für das geimpfte Individuum, sondern auch für die gesamte Bevölkerung«, heißt es beim Robert-Koch-Institut. »Die Stiko orientiert sich dabei an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin.« Die Bundesländer sind dann für die Umsetzung der Empfehlungen verantwortlich. Sie setzen diese üblicherweise 1:1 um, teils weichen sie leicht davon ab. Dies ist dann Grundlage für Bestellungen von Impfstoffen, Einsatz in den einzelnen Arztpraxen und auch für die Kostenübernahme durch Krankenkassen.

Die Stiko-Experten müssen durchaus komplexe Fragen beantworten: Stehen Wirkung und Nebenwirkung sowie Nutzen des Vakzins in einem angemessenen Verhältnis? Welche Gruppe oder Gruppen – je nach Alter und gesundheitlichen Risiken – sollen geimpft werden? Wann im Jahr ist der richtige Impfzeitpunkt? Wie viele Dosen sollen in welchem Abstand verabreicht werden? Die Wissenschaftler in diesem unabhängigen Gremium, das dem Robert-Koch-Institut und damit dem Bundesgesundheitsministerium untersteht, wälzen zusätzlich zu den Unterlagen der EMA die Fachliteratur und durchforsten Studien, werten vorliegende Daten aus, diskutieren ihre Erkenntnisse. Es geht also nicht um fachliche Meinungen, sondern um gute Evidenz, also Belege. Da die Stiko dies gründlich tut, genießt sie international einen guten Ruf.

Solange es keine Empfehlung der Ständigen Impfkommission gibt, kann die Impfung in Arztpraxen nur privat abgerechnet werden. Für Schwangere, die sich bereits gegen RSV impfen lassen wollen, empfehlen Medizinerverbände daher, vorab eine Kostenzusage ihrer Krankenkasse einzuholen.

Vor allem Kinderärzte drängeln. Sie hätten gerne noch vor der diesjährigen Erkältungssaison eine Empfehlung gehabt. Auch die Verbände der Gynäkologen würden dies zeitnah begrüßen, wie in den USA ab der 32. Schwangerschaftswoche. Allerdings müssten die Mediziner auch nicht die Folgen einer möglicherweise schludrigen Empfehlung verantworten. Die Stiko hingegen bekäme Ärger mit Eltern, wenn sie mögliche Nebenwirkungen von Impfungen zu gering gewichten, oder umgekehrt, wenn sie die Latte für die Impfung zu hoch gelegt haben, sodass es zu vielen möglicherweise vermeidbaren schweren Erkrankungen käme. Daher wird es auch mit der RSV-Empfehlung dauern. Diese wird für Mitte 2024 erwartet – verfasst von einer weitgehend neu besetzten Stiko.

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