»Unser Fokus bleibt Kritik«

Es gibt eine neue deutschsprachige Literaturzeitschrift: die »Berlin Review«. Ein Gespräch mit Gründungsredakteur Samir Sellami

  • Interview: Vincent Sauer
  • Lesedauer: 8 Min.
Digital ist besser: Deutschland hat eine neue Online-Zeitschrift, die »Berlin Review«.
Digital ist besser: Deutschland hat eine neue Online-Zeitschrift, die »Berlin Review«.

Fangen wir banal, basal, fundamental an: Was hat Sie dazu veranlasst, die »Berlin Review« zu gründen? Warum braucht es diese Online-Zeitschrift heute, hier und jetzt?

Darauf gibt es eine kurze und eine lange Antwort. Von der langen sickert ja hoffentlich in unserem Gespräch hier ein bisschen was durch. Die kurze: Es gibt in Deutschland eine traditionsreiche Feuilletonkultur, großflächige Radiokritik, ein reges Gesprächsklima durch Festivals, Literaturhäuser und die Aktivitäten im Netz. Aber es gibt keinen Ort, der all diese Energien bündelt. Und vor allem zu wenig Raum für Beiträge, die nicht nur Einzeltitel bewerten, sondern sie in Zusammenhänge bringen mit all dem, was los ist im Land und vor allem da draußen, jenseits der BRD. Dazu kommt, dass man als Kritikerin unmöglich von dem, was die Zeitungen zahlen, leben kann. Mit der »Berlin Review« wollen wir ein Medium schaffen, das auf diese beiden Leerstellen reagiert.

Sie wohnen mittlerweile in Brasilien und Ihr Mitherausgeber Tobias Haberkorn in Rom. Was ist »Berlin« an der »Berlin Review«?

Tobias und ich leben derzeit in Rom beziehungsweise in Fortaleza, weil unsere Partner*innen dort interessante Job-Angebote hatten. Davor waren wir lange in Berlin, sind natürlich auch jetzt regelmäßig vor Ort und nah dran an den Szenen. Bei mir heißt das allerdings, nicht öfter als zweimal im Jahr, denn es wäre absurd, wenn der Mitherausgeber einer Zeitschrift, die vielleicht bald mal einen alles andere als vernichtenden Longread zur Letzten Generation produziert, alle drei Wochen ins Flugzeug über den Atlantik steigt. Tobias nimmt etwas öfter den Zug über den Brenner.

Interview

Samir Sellami ist Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker und zusammen mit Tobias Haberkorn Gründungsredakteur von »Berlin Review«. Seine Texte erschienen u. a. in der »Süddeutschen Zeitung« und dem »Merkur«. Sellamis Studie »Hyperbolic Realims« über das maximalistische Spätwerk von Thomas Pynchon und Roberto Bolaño erschien im Februar 2024 bei Bloomsbury in New York. Er arbeitete außerdem in sozialen Bildungsprojekten.

Um bei der »Review« zu bleiben: Ihre Rezensionen sind längere Texte, grenzen an Kurzessays, keine gewöhnlichen Besprechungen à la Inhaltsangabe plus Urteil. Was macht für Sie diese Form aus? In Deutschland ist sie nicht sonderlich verbreitet.

Landläufige Literaturkritik zeigt beflissen, worum es in Büchern geht und wie sie geschrieben sind. Aber es mangelt ihr oft an Geduld und Hunger auf größere Kontexte, oft auch an Verspieltheit und Risiko. Wir wollen alles: die Bücher genau lesen und ihre Kontexte anzapfen und Texte mit ästhetischem Eigenwert, die auch mal was wagen. Und dafür braucht man eben mindestens 12 000, eher 20 000 Zeichen.

Sie haben etwas gegen kurze Texte?

Nein, das sollte das nicht heißen, im Gegenteil! Derzeit entwickeln wir ein Format für Kürzestrezensionen – auch eine Kategorie übrigens, die in Deutschland nicht sonderlich kultiviert wird. Ich halte mich da, wie auch sonst im Leben, an einen Satz von C. L. R. James: »Die Wahrheit liegt selten in der Mitte.«

Der Name der Zeitschrift erinnert an englischsprachige Periodika wie »New York Review of Books« oder »London Review of Books«. Nun geht’s bei Ihnen allerdings nicht nur um Bücher. Wo würden Sie sich auf dem weiten Feld der Literatur- und Kulturzeitschriften verorten?

Natürlich sind die beiden unsere direkten Vorbilder, obwohl es inzwischen auch viele jüngere gute Zeitschriften auf höchstem Niveau gibt, und das nicht nur im Anglo-Raum. Hier in Brasilien zum Beispiel die großartige Zeitschrift »Piaui«, deren Longreads und Reportagen zuweilen noch besser sind als die im »New Yorker«. Aber natürlich sind unsere Produktionsbedingungen nicht vergleichbar: Wir wollen weniger gediegen sein, weniger elitär, aber mit dem gleichen intellektuellen und stilistischen Anspruch. Um die Frage von vorhin etwas ernsthafter zu beantworten: Obwohl wir zweisprachig sind, wollen wir kein austauschbares Magazin im international Style sein, sondern uns auch auf innerdeutsche Fragen und natürlich den Büchermarkt hier fokussieren.

Von innerdeutschen Fragen sind ja auch gerade hier in Berlin nicht nur Deutsche betroffen. Das spielt bei Ihnen sicherlich auch eine Rolle.

Berlin ist schon lange kein Durchgangsort mehr, sondern Heimat ganz unterschiedlicher kultureller Communitys: von kurdischen und jesidischen Intellektuellen über die afghanische, iranische, israelische oder syrische Diaspora zu Künstler*innen und Scholars at Risk aus Osteuropa und dem Globalen Süden bis hin zu all den Expats mit den privilegierten Pässen. Das erzeugt Gelegenheiten, aber auch Spannung. Ich sehe uns als eine Art multisensorischen Schwamm, der all diese Energien aufnimmt und sie in Texte verwandelt, die nicht nur eine Diskursposition runterbeten. Das neue Klima der Anfeindungen gegen Dissidenten der Staatsräson hat dazu geführt, dass unsere Textkategorie »Memos« plötzlich viel zentraler geworden ist als geplant. Unser Fokus bleibt aber Kritik: Wir lesen die interessantesten Bücher und machen uns dazu die besten Gedanken.

Gehen wir in die Zeitschrift: Ein Schwerpunkt der ersten Ausgabe liegt auf dem Nahost-Konflikt. Die palästinensische Autorin Adania Shibli reflektiert darin die Absage des LiBeraturpreises der Frankfurter Buchmesse – nach den Massakern am 7. Oktober wollte man keinen Festakt mehr für sie veranstalten. Wie sind Sie an diesen Text gekommen?

Wir haben gefragt und konnten, wie es scheint, das Vertrauen einer sehr talentierten, feinsinnigen Autorin gewinnen, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich mit keinem deutschen Medium mehr zusammenarbeiten wollte. Was dann im Vordergrund stand, war minutiöse Arbeit an diesem wunderbar leisen und doch angriffslustigen Text und nicht das Kalkül, irgendeine spektakuläre Reaktion damit zu triggern. 

In einem weiteren Beitrag macht sich der israelische Philosoph Elad Lapidot Gedanken über die »gelbe Zeit«. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Der Begriff stammt von David Grossman, der damit die Gleichgültigkeit der jüdischen israelischen Öffentlichkeit angesichts der Besatzungspolitik in Westbank und Gaza bezeichnete. Grossman stellte seit den 80ern unbequeme Fragen nach einer gemeinsamen Zukunft. Mit dem Ende dieser gelben Zeit kündigt sich für Elad eine dunkle Zeitenwende an, etwas, das noch düsterer zu werden verspricht als die Epoche der Gleichgültigkeit. Es war ein großes, beklemmendes Glück, diesen traurigen Text veröffentlichen zu dürfen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Es findet sich ein Aufsatz über die Geschichte der palästinensischen Migration nach Deutschland; ein Text behandelt die deutsche Identitätskrise nach den Massakern an Israelis am 7. Oktober. Was war Ihnen wichtig bei der Herangehensweise an dieses Thema? Ausgewogenheit? Eine klare politische Stoßrichtung?

»Eine klare politische Stoßrichtung« insofern nicht, weil das hieße, wir hätten schon vorher gewusst, was später herauskommen soll. Aber es war uns schon wichtig, ein Gegengewicht zur desolaten Publikationslage nach dem 7. Oktober anzubieten. Der Begriff der Zensur beschreibt diese Lage ja nur unzureichend, denn viele, die in den deutschen Kulturmedien das Sagen haben, scheinen schlicht keinen Schimmer zu haben, was mit dem Handeln der in Teilen faschistischen Regierung Netanjahu überhaupt auf dem Spiel steht und worüber man etwa in Frankreich, zum Beispiel in der »Le Monde diplomatique«, der Onlinezeitung »Médiapart« oder dem Diskursblog »AOC Media«, jeden Tag offen diskutiert. Denn wüssten sie doch davon, ohne es zu verraten, müsste man ihnen ja statt Ahnungslosigkeit Zynismus unterstellen, und das will ja nun wirklich niemand.

Tobias Haberkorn und Sie sind beide Literaturwissenschaftler. Das bringt mich auf die Frage nach der Aktualität: Worin liegt der Vorteil, in regelmäßigen Abständen, also ausgabenweise, Texte hochzuladen, statt permanent eine Plattform zu füllen? 

Gute Frage, denn wir machen ja auch keine Themenhefte, also könnte man doch einfach in Blog-Manier alle zwei Tage einen neuen Beitrag raushauen, oder nicht? Damit würden wir uns aber wertvoller Möglichkeiten berauben. Denn wir wollen ja, während wir die einzelnen Texte emsig einsammeln, pro Ausgabe eine Gesamtstruktur komponieren, einen Resonanzraum aufbauen, der auch zwischen den Texten entsteht. Und das Ganze geben wir dann am Erscheinungstag als liebevoll eingepacktes Gesamtpaket an unsere Leser*innen weiter. Wir lockern den Ausgaben-Rhythmus aber schon jetzt auf und werden das noch ausbauen, etwa durch unsere Printausgaben, einen Newsletter nur für Abonnent*innen oder regelmäßige Podcasts. Ideen gibt es viele, wir brauchen dafür nur ein bisschen Zeit und vor allem genügend Abonnentinnen ...

In einer lustigen Rezension beschäftigt sich die Soziologin Carolin Amlinger mit Lesegewohnheiten und Vorurteilen in Bezug auf die bei jungen Leuten sehr erfolgreiche Gattung der Young-Adult-Romance-Romane: Wie stellen Sie sich Ihre Leser*innen vor? Wer abonniert euch (bislang)? Wollen Sie eine feste Community an die Zeitschrift binden, die liest und vielleicht manchmal auch schreibt, oder alles eher anonym halten?

Wir haben keine allzu fixen Vorstellungen von einer Zielgruppe, sind aber natürlich extrem neugierig, wer uns liest. Dafür sind unsere Veranstaltungen ein guter Gradmesser. Aber auf Dauer wollen wir unbedingt auch mit denen ins Gespräch kommen, die außerhalb der Berliner Bubbles sind. Die »London Review of Books« wird ja auch nicht nur in London, sondern vielleicht sogar von mehr Nicht-Londonerinnen als Londonerinnen gelesen. Carolin Amlingers Rezension ist aus einem literatursoziologischen Interesse entstanden und nicht mit der Absicht, damit eine bestimmte Zielgruppe zu erreichen. Ich glaube auch, das wäre gerade bei diesem Thema eine absolut ausgedachte Boomer-Strategie gewesen.

Und die Community?

Community ist uns sehr wichtig. Aber wir müssen auch Distanz wahren, nach allen Seiten, sonst verderben wir uns den kritischen Geschmack.

Seit dem 1. Februar veröffentlicht die »Berlin Review« unter https://blnreview.de acht Online-Ausgaben pro Jahr mit Essays, Reviews und Memos. Ab 1. Juni wird außerdem zweimal im Jahr ein Print-Reader mit ausgewählten Texten publiziert.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.