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Tschechischer Film: »Osteuropa« klingt nach Beleidigung
Über den gegenwärtigen Zustand des tschechischen Films
Viel zu oft denke ich in letzter Zeit über die Lage des tschechischen Films nach. Ich komme von hier, lebe in Prag, mache Filme … und werde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt. Ein Geruch der Niederlage liegt in der Luft, den jeder bemerkt, vor allem die Filmleute selbst, aber alle ignorieren. Doch wir kennen die Wahrheit: Zurzeit werden einfach keine guten Filme in Tschechien gemacht.
An der Oberfläche scheint unsere kleine europäische Filmwirtschaft das zu tun, was sie soll, vieles ähnelt anderen europäischen Ländern. Die Nationale Filmschule FAMU (Film- und Fernsehakademie der Akademie der Musischen Künste), Alma Mater von Miloš Forman und Emir Kusturica, wirft jedes Jahr neue depressive Absolventen ab. Die drehen jede Menge Filme, gelegentlich werden sie auch angesehen.
Regelmäßig gibt es Kassenschlager dank beliebter Schauspieler: Ondřej Vetchý und Hynek Čermák etwa, und alle, die gecastet werden, weil sie so ähnlich ausschauen wie die beiden. Sie vermitteln dem Publikum das Ideal zufriedener Arbeiterklassenmännlichkeit. Fast so erfolgreich sind Anna Geislerová und Jana Plodková: Sie spielen immer unzufriedene, etwas simpel gestrickte Frauen. Mit solchen Figuren werden unzählige Comedy-Filme gemacht. Der nationale Filmpreis, »Der tschechische Löwe«, wird Jahr für Jahr brav verliehen. Die Prämierten besaufen sich danach, stolpern über den roten Teppich auf den Stufen des Prager Rudolphinums – sorgen für Futter für die Klatschzeitungen. Doch im Zentrum dieses Spektakels herrscht eine große Leere.
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Der tschechische Film der Gegenwart ist eine Masse mittelmäßiger Mainstream-Comedy und Mainstream-Drama. Die Filme porträtieren romantische Beziehungen und das Familienleben ... aber auf völlig unpersönliche Weise. Die Figuren sind flach, ja leer, und füllen dann Szenen, von denen Drehbuchautoren annehmen, dass sie eben genauso alltäglich erlebt werden. Das passt schon allen.
Nirgendwo findet sich ein künstlerischer Versuch. Was am meisten fehlt, ist ein Gefühl, das dem Kino, dem Film wesentlich ist: echte geteilte Lebenserfahrung. Wir produzieren miese Produkte. Dass in Bildern vom wirklichen Leben, menschlichen Erfahrungen erzählt wird, geht nicht. Die Drehbuchschreiber versuchen ihre Ablaufpläne mit ausgedachten »alltäglichen Erfahrungen« aufzufüllen, statt einfach von ihren eigenen zu erzählen. Aber das ist verboten.
Wer in der tschechischen Filmindustrie arbeitet, erwartet davon nichts, außer bezahlt zu werden; zwar nicht gut, aber ein bisschen was kriegt man schon. Das tschechische Kino bringt nichts kulturell Wertvolles, nicht mal echte Unterhaltung hervor. Sowohl die Zuschauer als auch die vielen Investoren verlieren dabei. Allein die widerlichste, vulgärste Comedy zahlt sich manchmal finanziell aus. Die etwas besseren Filme laufen auf dem Karlovy-Vary-Festival. Nur ein einziger tschechischer Film, »The Painted Bird«, wurde bei den Festspielen in Venedig in den letzten zehn Jahren gezeigt.
Kein tschechischer Film der Gegenwart kam bislang an die Tschechische beziehungsweise Tschechoslowakische Neue Welle der 60er Jahre ran. Damals gaben sich Miloš Forman, Věra Chytilová, Jan Němec große Mühe, die Zensurbehörden zu umgehen: Indem sie sich auf kleine, vermeintlich nur persönliche Geschichten fokussierten, konnten sie auf subversive Weise die Themen behandeln, die der Gesellschaft wirklich wichtig waren. Zurzeit scheint niemand wirklich zu rebellieren.
Ihre Filme existieren nur noch als vage Erinnerungen. Wir imitieren höchstens diese Vergangenheit, bleiben blind für das, was heute auf der Welt geschieht. Wir sind vom Rest Europas abgeschnitten, seiner Kunst, seinen Trends. Und darauf sind wir irgendwie stolz. Jede Ahnung von Fortschritt und Aufbruch ist vergangen. Die Komödien bedienen sich Gender-Stereotypen, sind gespickt mit »Rape Jokes« (Witze über Vergewaltigungen), die ein paar Kilometer weiter westlich undenkbar wären. Der erfolgreichste tschechische Film des Jahres 2022, dessen Titel auf Englisch als »Bet on Friendship« (»Wette auf Freundschaft«) übersetzt wurde, zeigte einen sexuellen Übergriff ... und zielte damit auf Lacher im Publikum. Ich hab ihn im Kino gesehen. Kaum jemand lachte zum Glück.
Der rote Stern wurde nach der Samtenen Revolution durch Dollarzeichen ersetzt. Wir versuchen jetzt ein liberales europäisches Land zu sein. Die Filme müssen kommerziell erfolgreich werden. Aber wir versuchen Geld zu machen, ohne es zu haben, erschaffen eine Bittstellerindustrie. Den durchschnittlichen Mainstream-Streifen schauen sich nicht mehr als 30 000 Leute an.
In unseren Filmen zeigt sich das verschobene Selbstbild Tschechiens: Wir sehen uns einerseits als Teil des großartigen, wohlhabenden, imperialen West-Europa, andererseits als armes ausgebeutetes Ost-Europa, das an seinen Traditionen hängt und abgeschottet ist. Das ist unlogisch und lächerlich. Natürlich ist das hier der Osten, wir geben es nur nicht zu. »Osteuropa« klingt dann schnell nach einer Beleidigung.
Nie würden wir zugeben, dass es für ein ärmeres Land sinnvoller wäre, sich um Kunst zu bemühen, um persönliche, kleine Filme, statt die fetten Hollywood-Produktionen nachzuahmen mit ärmlichen Kulissen. Schaut euch die Rumänische Neue Welle an, sie verstehen, wie’s geht.
Es gibt hier nichts, was sich mit dem Independent-Film Rumäniens vergleichen ließe. In einer Möchtegern-Industrie, die kein Geld einbringt, kommt man nur an welches vom Staat. Das sind im Wesentlichen der Staatliche Filmfonds und Česká televize, das Staatsfernsehen. Solche Institutionen haben einen gewissen Geschmack, den muss man perfekt treffen. Es geht bei diesen Filmen um Publikumsakkumulation. Offiziell haben wir liberale Freiheiten, aber eigentlich nur eine andere Form der Zensur, denn der Staat besitzt die Filmproduktivkräfte. Statt Kunst also: gern gesehene Filmchen, die im besten Fall ein wenig Geld einspielen. Eine schräge historische Wendung.
Entweder ein Film gefällt dem Komitee oder er geht gar nicht. Die Zensur unserer kommunistischen Vergangenheit ging großzügiger vor als die heutige. Damals finanzierte man immerhin Kunst, heute gibt der Staat Kommerz sein Geld. Natürlich kann in so einem System nichts Wertvolles entstehen. Auch Produzenten für »unabhängige« Filme hängen vom Staat ab. Das erlaubt kein (künstlerisches) Risiko. Entweder der Staat findet’s zu schräg, was da jemand vorhat, oder die Besserverdiener-Filmfirmen fällen dasselbe Urteil. Niemand rebelliert.
Die staatliche Filmförderung ist mitschuldig. Aber prinzipiell muss man sie nicht verdammen. In Osteuropa ist das überall so. Aber aus irgendeinem Grund funktioniert sie hier nicht. Vielleicht liegt das an dem Amalgam aus zensurgeiler Beamtenkontrolle und einer offen kapitalistischen Maschinerie, die Geld machen will.
Es gab Versuche, um diesem Kino-Leichnam wieder Leben einzuhauen. Eine junge Generation Filmemacher steht auf. Manifeste versprechen persönlichere Filme, erklären sich zu einer Bewegung: »Neue Tschechische Intimität«. Leider führte das alles bislang nur zu obskuren Produktionen, kastrierten Sex-Dramen könnte man sagen, mit Darstellern des Nationaltheaters und Geld vom Staatsfernsehen. Weibliche Geschlechtsteile dürfen auf keinen Fall gezeigt werden, denn das könnte die Investoren verstimmen und das Kulturministerium. Fürs Fernsehen wird Nacktheit hinter Filtern versteckt.
Alles führt am Ende zu einem merkwürdigen Bedürfnis nach Selbstzensur. Wer Geld machen will, darf kein Risiko eingehen. Man adaptiert den Geschmack, den die Geldgeber, dem »tschechischen Zuschauer« unterstellten. Diese abstrakte, ausgedachte Figur, der »tschechische Zuschauer«, nach der wir uns richten sollen, will nichts Neues sehen. In Wahrheit hungern die Leute nach Erneuerung, aber wir scheren uns nicht drum. Es besteht immer Hoffnung für die Kunst, aber im Moment steht Kunst im Kino in Tschechien nicht zur Debatte.
Der Autor, Jahrgang 2000, hat kürzlich sein Regie-Studium an der Prager Film-Universität abgeschlossen. Mit seinem Abschlussfilm »Jubilee« wartet er auf die Festivalsaison. Aus dem Englischen übersetzt von Vincent Sauer.
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