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Berlin Pankow: Gemeinsam gegen Menschenfeindlichkeit
Zum vierten Mal finden die Wochen gegen Rassismus statt. Initiativen gegen rechts berichten von neuem Gewaltpotenzial im Stadtteil
Etwa 20 Erwachsene sind am Dienstag trotz Streik bei der S-Bahn bis zur Stadtgrenze gekommen. »Ihr könnt alle mit anfassen«, sagt Doreen Tiepke-Ihlow, Leiterin der Stadtteilbibliothek Buch zu ihnen. Zur Auftaktveranstaltung der Wochen gegen Rassismus tragen sieben Kinder ein sechs Meter langes aus Papier gefaltetes Origami-Boot in die Bibliothek. Neben diesem wurden 99 weitere Boote in Berlin gefaltet. Sie symbolisieren die mindestens 100 Millionen Menschen, die derzeit auf der Flucht sind. Die Grundschülerin Melek zeigt stolz auf das riesige Origami-Boot. »Ich habe diese blaue Linie gemalt«, erklärt sie. Diverse bunte Striche sind zu erkennen, die einander kreuzen. »Sie stehen für die Lebensgeschichten der Menschen, die sich treffen«, erklärt Tiepke-Ihlow. Zum 20. Juni sollen alle Origami-Boote anlässlich des Weltflüchtlingstages zum Reichstag gebracht werden.
An diesem Dienstag starteten zum vierten Mal die Wochen gegen Rassismus in Pankow. Zwei Wochen lang führt ein buntes Bündnis aus Pankower Vereinen, Initiativen, Bibliotheken und der Verwaltung durch einen Bezirk mit 410 000 Einwohner*innen. Das Programm umfasst Kiezaktionen, Diskussionsveranstaltungen, offene Vernetzungsrunden gegen rechts und gemeinsames Fastenbrechen. Die Wochen gegen Rassismus enden am 24. März.
Organisierte Rechte im Kiez
Die Aktionswochen sind nötiger denn je. Denn in Pankow haben rechte Aktivitäten enorm zugenommen. Für viele ist die Nationalrevolutionäre Jugend (NRJ), die Jugendorganisation der Neonazi-Kleinpartei »III. Weg«, verantwortlich. Es scheint, dass mittlerweile nicht nur verbale, sondern auch physische Konfrontation mit dem politischen Gegner zur Strategie der Jungrechten gehört. Andreas Ziehl von Moskito, der Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus, spricht gegenüber »nd« von einem Strategiewechsel der NRJ. Dieser habe spätestens im Sommer 2023 eingesetzt: Damals schüchterte die NRJ im Sommerbad Pankow gezielt migrantische Menschen ein. Laut »Tagesspiegel« soll einer der Jugendlichen einen Baseballschläger bei sich getragen haben.
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Seit Anfang des Jahres nehme die Präsenz der NRJ auch vor dem Jugendzentrum Jup und im Florakiez zu, erzählt dem »nd« die Jup-Geschäftsleiterin Jana Ringer. »Sie treten vermummt und gewalttätig auf und versuchen uns einzuschüchtern.« Das erinnere an die 90er Jahre. Als Jugendzentrum klare Kante gegen rechts zu zeigen und sich für menschenrechtsorientierte und antirassistische Jugendarbeit einzusetzen, bringe laut Ringer schon seit den 90er Jahren die Möglichkeit mit sich, angegriffen zu werden. Nun bräuchte es die Solidarität der Menschen, »um einen Unterschied zu machen«.
Es bleibt nicht bei Agitation oder Einschüchterungsversuchen. Ziehl erzählt, dass bei dem Angriff am 21. Januar in Prenzlauer Berg, bei dem mehrere Jugendliche einen 20-Jährigen mit linkem Aufnäher schlugen, »einzelne Täter mit Schlauchtüchern vom III. Weg dabei« waren. Auch versuche die Partei und ihre Jugendstruktur »über den Kampfsport anzuknüpfen«. Unter anderem im Bürgerpark Pankow oder an der Rennbahnstraße haben Jugendliche vom NRJ offen trainiert.
Was also tun gegen eine »neue Generation von aktionsorientierten Rechtsextremen«, wie Judith Heinmüller von der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) die jüngsten Entwicklungen in Pankow im Gespräch mit »nd« beschreibt?
Zivilcourage fördern
Im Mühlenkiez, knapp 15 Kilometer von Buch entfernt, treffen sich auf dem Platz vor der Heinrich-Böll-Bibliothek rund 30 Menschen zur gemeinsamen Kiezaktion, im Rahmen der Aktionswoche. Ziel ist es, mit der Nachbarschaft zu »Diskriminierung und Zivilcourage ins Gespräch zu kommen«, wie es in der Einladung heißt. Es ist kein Zufall, dass sie hier stehen. Denn nicht nur organisierte Rechte machen in Pankow von sich hören. Vor zwei Jahren wurde die damals Minderjährige Dilan S. hier auf offener Straße rassistisch angegriffen. Der Fall sorgte nicht nur wegen des Rassismus, sondern auch deshalb für Aufsehen, da das Video der Tat zeigt, dass zahlreiche Anwesende nicht eingriffen.
Chaska Stern ist Coach für Zivilcourage. Stern präsentiert dem »nd« eine Tasche, ähnlich einem Kulturbeutel. »Das ist meine Erste Hilfe für Zivilcourage.« Stern will, dass Menschen »handlungssicher« werden und lernen, »zu entscheiden, was demokratisches Verhalten ist.« Er zeigt den Inhalt der Tasche: Ein kleines Erste-Hilfe-Set »zur schnellen Erstversorgung«. Eine Trillerpfeife mit 120 Dezibel soll Außenstehende alarmieren. Eine Taschenlampe erhellt nicht nur die Situation, sondern kann auch Angreifende blenden. Teil des Sets sind auch Telefonnummern für Notfälle und Bonbons zur Beruhigung. Auch Stift und Zettel finden sich in der Tasche, damit Betroffene schnell ein Gedächtnisprotokoll schreiben können. »Nach circa zwei Stunden verändert sich die Wahrnehmung«, meint Stern. Viele Einzelteile trage sie jeden Tag mit sich.
Alex ist Nachbarin im Mühlenkiez und lauscht Sterns Präsentation. »Seit 2015 ist die Stimmung hier aggressiver geworden«, meint Alex, die 2009 in den Kiez zog, im Gespräch mit »nd«. »Rassistischer Scheiß« sei schon vorher Teil Pankows gewesen. »Er ist aber salonfähiger geworden.« Auch Unzufriedenheit und Egoismus nehme sie im Alltag und in der sozialen Arbeit mit Menschen aus dem Kiez wahr.
»Die Leute sehen im Moment wahrscheinlich keine Alternative für ihre Probleme, als die AfD zu wählen«, erklärt Ludger Lemper von der Kulturmarkthalle gegenüber »nd«. Die Kulturmarkthalle ist neben Moskito Veranstalter der Mühlenkiez-Aktion. 34,6 Prozent hätten im Wahllokal an der Kulturmarkthalle zuletzt für die AfD gestimmt, erzählt Ludger. In diesem Teil Prenzlauer Bergs sei das Verhältnis zwischen People of Color und Weißen fast ausgeglichen. Lemper findet es wichtig, im Gespräch zu bleiben, auch wenn es »Grenzen« gäbe, »mit wem man noch sprechen kann«.
Räume für Vernetzung und Empowerment
Um zu sprechen, braucht es Orte. Die Stadtteilbibliothek Buch, wo für die Aktionstage das Origami-Schiff präsentiert wurde, ist so einer. »Unser Hauptanliegen ist die Vernetzung«, erklärt Bibliotheksleiterin Tiepke-Ihlow im Gespräch mit »nd«. Die Bucher Stadtbibliothek spiele nicht nur in den Wochen gegen Rassismus, sondern an jedem anderen Tag eine wichtige Rolle für demokratische Teilhabe. »Wir sind der dritte Ort«, sagt Tiepke-Ihlow. Damit spielt sie auf ein soziologisches Konzept an: Nach dem Zuhause und dem Arbeitsplatz käme die Bibliothek als elementarer Sozialraum. In Buch, wo es keine Copyshops und keine Buchhandlung gibt, ist die Bibliothek nicht nur ein Ort für Bücher, sondern auch für kostenloses WLAN und die Möglichkeit, sich Laptops auszuleihen. Zu den drei Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete fahre sogar eine Fahrradbibliothek: »Statt Bücher haben wir Spiele dabei«, erklärt Tiepke-Ihlow. Denn für diese müsse man nicht Deutsch lesen können.
Seit 2016 würde laut Bibliotheksleiterin Doreen Tiepke-Ihlow der Ortsteil Buch durch verschiedene Kulturen belebt werden. Diese kommen auch an diesem Dienstag zusammen: Adolphine erzählt zweisprachig ghanaische Märchen, Tetiana und Silvia vom feministischen Verein »Trixiewiz« stellen Angebote der Bildung und des Empowerments für Migrant*innen vor. Und jenseits der Wochen gegen Rassismus bietet ein »schall- und sichtschützender Raum« der Bucher Stadtbibliothek Sprachkurse oder Workshops zu Femiziden an. Tiepke-Ihlow präsentiert auch stolz die intersektionale Abteilung, in der man nicht belehre, sondern selbstverständlich zeige »Loving: Männer, die sich lieben« oder Bücher über Frauen, die keine Mütter werden wollen.
»Wenn wir über Diskriminierung und Rassismus aufklären wollen, brauchen wir diese Orte«, meint Bibliotheksleiterin Tiepke-Ihlow. Seit dem Regierungswechsel fehlen der Bibliothek jedoch die Honorare für Veranstaltungen und kooperierende Initiativen könnten sich nur schwer über Wasser halten. »Es ist spürbar, dass ein anderer Wind herrscht als zuvor«, meint Tiepke-Ihlow, die sich seit den 90er Jahren gegen rechts engagiert.
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