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Kinderbücher: Kapitalismus für die Kleinsten
Leipziger Buchmesse: Wie Kinderbücher Zweijährigen die Welt erklären, verrät eine Menge über die Zeitnot der Eltern
Verlage sind ein Sammelbecken für Germanisten. Für Menschen, die Jahre ihres Lebens damit zubringen, Wörter und Sätze zu sezieren. Das macht sie zu Chirurgen der Sprache. Wie ihre Kollegen vom medizinischen Fach verlieren sie vor lauter Details schon mal den Blick fürs große Ganze. Auch Kunstfehler passieren. Dann wird das glückliche Comic-Schwein »Fridolin Freudenfett« zu »Fridolin Freundlich«, und jener Kleingeist, der die literarischen Donald-Duck-Übersetzungen von Erika Fuchs verhunzt, merkt nicht einmal, dass er Bodyshaming betreibt. Übergewichtige dürfen sich nicht über ihr Gewicht freuen? Anscheinend ist Fett ein Tabu in einer Gesellschaft, in der selbst Armbanduhren (»Smart Watches«) zum Zweck der Selbstoptimierung eingesetzt werden. Heute schon 10 000 Schritte gegangen?
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In solchen Details offenbaren sich Geisteshaltungen. Richtig aufschlussreich wird die Angelegenheit, wenn man sich anschaut, welches Weltbild ganz jungen Menschen vermittelt werden soll. »Mein erstes großes Buch von meiner Familie« heißt ein Standardwerk aus der Ravensburger-Reihe »Meine erste ministeps-Bibliothek«, das sich an Kleinkinder ab 24 Monaten richtet und gemeinsam mit der Zeitschrift »Eltern« entwickelt wurde. Es kam 2017 auf den Markt und hat sich seitdem besser verkauft als die meisten Bücher, die in der Ecke für literarische Neuerscheinungen zu finden sind.
Natürlich wollen Eltern, dass ihre Jüngsten pädagogisch Wertvolles »lesen«. Und Ravensburger ist der Klassikerverlag für Schnullerbacken. Das unterscheidet ihn von Beltz & Gelberg, die in den 70ern mit ihren orangefarbenen Bänden den westdeutschen Kinderbuchmarkt aufmischten, indem sie Unschönes zeigten und deutlich machten, dass die Kinderwelt nicht immer eine heile ist. Vielen bürgerlichen Eltern war dies zu politisch, zu links, zu düster.
So weit ging Ravensburger nie. Man ist Mainstream. Dem Zeitgeist eilt man nicht voraus, sondern passt sich ihm an, wenn es notwendig erscheint. In »Mein Besuch beim Kinderarzt« hat Onkel Doktor eine dunklere Haut und trägt den türkischen Namen Aslan. Der Zahnarzt wiederum ist weiblich. Was überfällig ist: Zwei Drittel der Studienanfänger im Fach Medizin sind Frauen.
Und wie sieht es in der Familie aus, der »Keimzelle des Staates«? Angesichts einer Scheidungsquote von 40 Prozent lässt sich das Bild von Mama und Papa, die ein Leben lang zusammenbleiben, nicht länger aufrechterhalten. Das weiß auch Ravensburger. In »Mein erstes großes Buch von meiner Familie« gibt es einen Scheidungsvater, der sein Kind nur zu festen Terminen sieht. (»Annas Papa wohnt nicht bei Mama und Anna. Aber heute holt er Anna ab, denn heute ist Papa-Tag.«) Auch eine Patchworkfamilie findet man hier. (»Noah mag Sofie. Am liebsten will er immer mit ihr zusammen sein. Das wünschen sich Noahs Mama und Sofies Papa auch. Darum ziehen bald alle in ein neues Haus.«)
Zudem ist es nicht länger ein Tabu, wenn Mama weiße und Papa schwarze Haut hat. Zum Glück muss dies nicht mal mehr erwähnt werden. Der Vater fällt durch »eine grüne Brille und ’nen Bart rund um den Mund« auf – nicht durch einen dunklen Teint. Seltsamerweise wird die Hautfarbe dann doch zu einem Thema, wenn es um die Adoption eines Kindes geht. (»Loran ist neu in Hannahs Familie. … Er kommt aus einem anderen Land und sieht auch ganz anders aus. Seine Haut ist viel dunkler als Hannahs.«)
Auch schreckt Ravensburger davor zurück, eine Familie darzustellen, in der die Eltern das gleiche Geschlecht haben. Vielleicht hat man im Verlag darüber diskutiert, ob man seinen Lesern in puncto Homosexualität so viel Toleranz zutrauen kann, und ist zu dem Ergebnis gekommen, lieber noch ein paar Jährchen zu warten.
Worüber man garantiert nicht diskutiert hat, ist der Kapitalismus – und wie er die moderne Arbeitswelt und damit das Familienleben prägt. Denn Germanisten sind keine Politologen. Ihr Interesse gilt dem Überbau, nicht der ökonomischen Basis. Deshalb erfährt man in »Mein erstes großes Buch von meiner Familie« auch nichts über die Beschäftigungsverhältnisse der Eltern, unbeabsichtigt aber eine Menge darüber, was die Arbeit mit ihnen macht.
Die erste Geschichte »Kuschelzeit« gibt die Richtung vor. Da wird ein gemütlicher Sonntagmorgen im elterlichen Bett beschrieben. Es wird geschmust und gekitzelt, bis im letzten Satz die Eisdusche niederprasselt: »Oh, wie ist das schön, wenn sonntags Familienzeit ist!« Was im Umkehrschluss bedeutet: An sechs von sieben Wochentagen ist Zeit Mangelware, und die Familie bleibt auf der Strecke.
Auch in anderen Ravensburger-Bänden kommt das Problem des Zeitmanagements zur Sprache. »Mein erstes großes Buch zum Kuscheln, Trösten, Einschlafen« bereitet schon die Anderthalbjährigen auf die Realität der Berufswelt vor: »Sonntags haben Papa und Mama viel Zeit für Max und Greta.« Den Rest der Woche leider nicht.
Die Quality Time mit dem Nachwuchs ist eng bemessen. Eine Geschichte trägt den Titel »Mama nimmt sich Zeit«. Dass dies etwas Besonderes ist, macht bereits das Intro deutlich: »Heute Nachmittag sind Mama und Greta allein. Darauf haben sich beide sehr gefreut.« Man kann nur mutmaßen, wie lange die Vorfreude dauerte. Eine, zwei oder gar drei Wochen?
Gut, wenn man Verwandte hat, die ab und an einspringen. »Jeden Dienstag müssen Mama und Papa lange arbeiten. Dann holt Onkel Moritz Lise von der Kita ab.« Da Öffnungszeiten bis mindestens 17 Uhr die Regel sind, kann man davon ausgesehen, dass die Eltern irgendwann am Abend ihre Sprösslinge zu Gesicht bekommen.
Es ist ein Kreuz mit den Besitzern der Produktionsmittel, die über die Zeit ihrer menschlichen Produktivkräfte nach Gutdünken verfügen. In »Tschüss, Mama!« begrüßt eine Kita-Erzieherin die eintreffenden Kinder mit den Worten: »Heute bleibt ihr lange bei uns« – der Kapitalist, Pardon!, Arbeitgeber will es so.
Doch verlangt die herrschende Wirtschaftsordnung von Angestellten nicht nur zeitliche, sondern auch räumliche Anpassung. Die dringend benötigte familiäre Unterstützung bei der Kinderbetreuung entfällt, wenn Oma in Halle (Saale), Mama und Papa jedoch in Hamburg wohnen. Von der Lösung, die Ravensburger für solch missliche Lagen bereithält – »Oma Frida ist Pauls Leihoma. Seine richtige Oma wohnt weit weg. Aber Oma Frida wohnt nebenan« –, dürften viele Eltern nur träumen.
Spätestens an dieser Stelle wünscht man sich, der Nachwuchs möge beim Vorlesen frühzeitig einschlafen – die Dreikäsehochs werden noch früh genug begreifen, warum Mama und Papa nie Zeit haben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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