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Linker Wahlkampf in Leipzig: Durch Tausende Türen ins Parlament
Mit einem ungewöhnlichen Wahlkampf will Nam Duy Nguyen in Leipzig ein Direktmandat für Die Linke erringen
Die »Operation Direktmandat« beginnt wissenschaftlich wie eine Mission in das ewige Eis. Erst einmal wird das unbekannte Terrain vermessen, indem alle verfügbaren Daten gesammelt werden. Wer wohnt im Wahlkreis? Wie groß sind die Haushalte? Wie alt sind die Wähler, was verdienen sie, und wie viel Miete müssen sie zahlen? »Aus diesem Wissen«, sagt Nam Duy Nguyen, der Kandidat, »entwickeln wir unsere Themen.«
Danach wird seine Mannschaft ausschwärmen, die nach seinen Angaben aus bis zu 150 Mitstreitern und Unterstützern besteht und sich schon jetzt, 160 Tage vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September, regelmäßig zu »Aktiventreffen« versammelt. »Wir sind früh dran«, bestätigt Marlen Borchardt, die Nguyens Kampagne organisiert, »aber wir haben auch viel vor«. Es werde, verspricht der Kandidat selbstbewusst, »ein Wahlkampf, wie es ihn in der Linken selten gab«.
Noch sitzt Nguyen entspannt in einem Café unweit des Leipziger Innenstadtrings. Das Gebiet, das zu erobern er sich bei der Abstimmung am 1. September anschickt, liegt östlich davon. Er umfasst Teile des Zentrums und die Stadtteile Neustadt-Neuschönefeld und Reudnitz-Thonberg: Quartiere mit Gründerzeithäusern und Straßenzüge, die von Plattenbauten gesäumt werden; bürgerliche Wohnviertel, linke Hausprojekte, Sozialwohnungen, dazwischen die Eisenbahnstraße, deren Anwohner aus vielen Ländern stammen.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Der sächsische Wahlkreis 25 (Leipzig 1) wurde erst für diese Wahl neu gebildet. Grund ist das Bevölkerungswachstum in der Großstadt, in der Ende vorigen Jahres 628 718 Menschen lebten. Allein in seinem Wahlkreis können knapp 50 000 Menschen ihre Stimme abgeben. »Bei mindestens 20 000 Haushalten«, sagt er, »wollen wir ab Mitte Juni persönlich an der Haustür klingeln.«
Nicht nur die Art der Kampagne ist ungewöhnlich, auch der Kandidat selbst ist es. Nguyens Eltern stammen aus Vietnam. Die Mutter kam als Flüchtling in die DDR, der Vater wurde als Vertragsarbeiter in das sozialistische »Bruderland« geholt und war seit 1987 im Stahlwerk Freital tätig. Als dort nach der deutschen Vereinigung und dem Einzug kapitalistischer Verhältnisse viele Stellen gestrichen wurden, verlor er seinen Job.
Als Nam Duy 1996 als eines ihrer drei Kinder geboren wurde, lebte die Familie schon mehrere Jahre in Riesa. Die Eltern hatten sich wie viele ehemalige Landsleute gezwungenermaßen selbstständig gemacht und betreiben bis heute ein kleines Ladengeschäft. Für große Sprünge reichte es nicht, obwohl sie stets hart gearbeitet hätten: »Wir waren«, sagt er unumwunden, »immer arm.«
Menschen mit seiner Herkunft sind in der bundesdeutschen Politik selten. Dem Bundestag gehören Politiker wie Karamba Diaby an, der in Halle lebt und in Senegal geboren wurde. Die Eltern von dessen sächsischer SPD-Fraktionskollegin Rasha Nasr kamen ein Jahr vor Nguyens Vater aus Syrien in die DDR. Der ebenfalls in Sachsen gewählte bündnisgrüne Abgeordnete Kassem Taher Saleh wurde im Irak geboren und lebt seit seinem zehnten Lebensjahr in Plauen im Vogtland.
Dagegen sind Menschen mit vietnamesischen Wurzeln, von denen in Deutschland rund 200 000 leben, in der Politik des Landes kaum vertreten; einzige prominente Ausnahme ist Philip Rösler, der frühere FDP-Gesundheitsminister, der als Adoptivkind in die Bundesrepublik kam. Gern wird das mit einer speziellen Mentalität erklärt: Menschen mit vietnamesischen Wurzeln integrierten sich oft gut, drängten aber nicht nach Aufmerksamkeit. »Unauffällig an die Spitze«, überschrieb die »Taz« einst einen Artikel zum Thema. Nam Duy Nguyen fügt hinzu, viele Vietnamesen sähen ihre Kinder lieber in naturwissenschaftlich-technischen Berufen: Ingenieur, Mediziner. Weil gute Schulabschlüsse und Studium ohne die harte Arbeit der Eltern nicht möglich wären, folgen viele Kinder diesem Wunsch.
Er selbst ging einen anderen Weg. Nach dem Abitur in Riesa zog er 2014 zunächst nach Leipzig, wo er Politikwissenschaften studierte, es folgte ein Soziologiestudium in Jena. Das Interesse an gesellschaftlichen Prozessen weckten indirekt seine Eltern. »Ich saß nach der Schule oft in deren Laden und las stundenlang Magazine wie ›Spiegel‹ oder ›Focus‹«, sagt Nguyen. Es ist nicht unbedingt eine Lektüre, die zu linkem Denken prädestiniert.
Auslöser dafür waren eher die Lebensverhältnisse der Familie, die »stets prekär« waren und die Nguyen als zutiefst ungerecht empfand, sowie der Rechtsextremismus, der im Riesa der 2000er Jahre allgegenwärtig war. Die NPD, die 2004 mit 9,2 Prozent in den sächsischen Landtag einzog und zwölf Abgeordnete stellte, betrieb in der Stahlstadt mit dem Verlag der »Deutschen Stimme« ihre Propagandazentrale; ihr einstiger Landes- und Fraktionschef Holger Apfel lebte in Riesa. Nazis waren in der Stadt allgegenwärtig. »Das hat sehr zu meiner Politisierung beigetragen«, sagt Nguyen.
Die schlägt sich nicht nur in großem Interesse, sondern in enorm vielfältigem Engagement nieder. An der Uni wurde Nguyen Sprecher des Fachschaftsrates und engagiert sich im Linke-nahen Studierendenverband SDS, wo er, wie er anmerkt, mit marxistischen Texten in Berührung kam. Im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung referierte er vor Schulklassen. In Leipzig organisierte er maßgeblich die Kampagne »Legida läuft nicht« mit, die sich dem örtlichen Ableger der fremdenfeindlichen Pegida-Initiative entgegenstellte. In Dresden gehörte er 2019 zu den Köpfen hinter einer Demonstration des Bündnisses »Unteilbar«, bei der 40 000 Menschen gegen Rassismus und Ausgrenzung auf die Straße gingen.
Auch Gewerkschaften unterstützte er aktiv, etwa als im bayrischen Augsburg Beschäftigte von Kliniken gegen den Pflegenotstand mobilisiert wurden. Das nötige theoretische Rüstzeug habe er während des Studiums in Jena bei Wissenschaftlern wie Klaus Dörre und Oliver Nachtwey erworben, sagt er: Wie sieht eine erfolgreiche Kampagne aus? In welchen Schritten muss sie geplant werden? Wie sollten Beteiligte organisiert werden? Welche Schlüsselfiguren gibt es, wie lässt sich Erfolg testen? Es gehe, sagt Nguyen, um einen »plan to win«, einen Plan, um zu gewinnen, wie er derzeit auch für die Zeit bis zum 1. September aufgestellt wird.
Dass er zur Landtagswahl für Die Linke, der er 2015 beitrat, um ein Direktmandat kämpfen darf, liegt an beidem: seiner Herkunft und seiner Erfahrung. Nguyen sei als Nachkomme von Zuwanderern »eine Bereicherung« für die Partei, sagt Jule Nagel, die im Leipziger Süden 2014 und 2019 zweimal ein Direktmandat erobern konnte.
Bei der Wahlversammlung der Leipziger Stadtpartei sprach sich Nagel bei der Nominierung für den Wahlkreis Leipzig 1 öffentlich für Nguyen aus, obwohl sie mit dessen Gegenkandidat Michael Neuhaus, früher Bundessprecher des linken Jugendverbands (Solid) und ihr Fraktionskollege im Stadtrat, politisch eigentlich auf einer Wellenlänge liegt. Dass aber Migranten in der sächsischen Linken bisher keinerlei Rolle spielten, sei »ein Defizit«, sagt Nagel. Nguyen könnte das ändern und vielleicht sogar für eine weitere Premiere sorgen: Gelänge ihm der Einzug in den sächsischen Landtag, wäre er dort der erste nichtweiße Abgeordnete überhaupt.
Aufgestellt wurde Nguyen allerdings gleichermaßen aufgrund seiner politischen Erfahrungen und einer feurigen Bewerbungsrede, in der er seinen Genossen versprach, im Wahlkampf »jeden verdammten Stein umdrehen« zu wollen. In seiner Arbeit mit Gewerkschaftern habe er »gelernt, dass das Gespräch von Kollegin zu Kollege oder in diesem Fall von Parteimitgliedern zur Arbeiterbasis durch nichts ersetzt werden kann«, sagte er. Er wolle sich daher »aufmachen« und an Haustüren gehen, um mit »ehrlichen Gesprächen« um Wählerstimmen zu werben.
Auf der Kampagne von Nguyen und seinen Mitstreitern ruhen Hoffnungen über Leipzig hinaus, denn womöglich rettet sie der Linken in Sachsen ihre parlamentarische Existenz. In den jüngsten Umfragen wird sie an oder knapp oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde geführt, deren Erreichen für den Einzug ins Parlament maßgeblich ist. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass sie daran scheitert. In dem Fall bliebe eine Hintertür: die »Grundmandatsklausel« im sächsischen Wahlgesetz, derzufolge auch zwei gewonnene Direktmandate den Einzug in den Landtag sichern. Die Partei wäre dann mit so vielen Abgeordneten vertreten, wie es ihrem Stimmanteil entspricht. Bei knapp unter fünf Prozent könnten das sechs oder sieben sein.
Bei früheren Wahlen gewann die PDS auch Wahlkreise in Chemnitz oder Hoyerswerda; aktuell hat sie realistische Chancen aber nur in einigen Bezirken in Leipzig. Jule Nagel gilt trotz eines leicht veränderten Zuschnitts in ihrem Wahlkreis erneut als Favoritin im Leipziger Süden. Marco Böhme, der mit dem Motto »Gusche auf für ein solidarisches Sachsen« wirbt, versucht im Westen der Stadt an der Grünen Claudia Maicher vorbeizuziehen, der er 2019 im Wahlkreis 30 mit 2,5 Prozentpunkten unterlag.
Und auch Nguyen werden Chancen eingeräumt. Seine stärkste Kontrahentin dürfte Christin Melcher sein, die 2019 ebenfalls für die Grünen ein Direktmandat geholt hatte. Der Leipziger Aktivist Roman Grabolle rechnete beim Twitter-Nachfolger X vor, dass auf der Basis der Ergebnisse von 2019 in dem neuen Bezirk die Grünen mit 28,6 Prozent vor der Linken mit 22,1 Prozent gelegen hätten. Für die in landesweiten Umfragen klar führenden Parteien AfD und CDU gilt der Wahlkreis 25 als schwieriges Terrain, weil er keine von deren Bastionen am Stadtrand und in Vororten umfasst.
Nguyen hofft, durch seine ungewöhnliche Kampagne am Ende die Nase vorn zu haben und in den Landtag einziehen zu können – obwohl er eigentlich nie ein Mandat angestrebt habe, wie er einräumt: »Ich gehöre zum eher parlamentarismusskeptischen Teil der Linken.« In diesem Wahljahr 2024 gebe es aber eine »besondere Konstellation«, fügt er an. Die AfD droht mit Abstand stärkste Kraft zu werden und hätte, selbst wenn sie aus der Regierung ferngehalten werden kann, mit mehr als einem Drittel der Sitze im Landtag erheblichen politischen Einfluss. Die Linke dagegen hat sich auch nach der Abspaltung des Flügels um Sahra Wagenknecht nicht spürbar erholt und brauche dringend einen »Neuanfang«, wie Nguyen formuliert.
In dieser Situation habe er gemeinsam mit seinen Mitstreitern im SDS und in anderen Initiativen beschlossen, den Kampf aufzunehmen: »Das war eine kollektive Entscheidung.« Auf der Wahlversammlung der Stadtpartei erklärte er, dass sich »eine ganze Generation von Aktivist*innen aus der Klimabewegung, der antifaschistischen Bewegung oder auch gewerkschaftlich organisierter Kolleginnen« die Frage stelle, »ob ihnen eine linke Partei wichtig ist oder nicht«. Viele bejahen das offensichtlich. Allein seit Jahresbeginn verzeichnete die Stadtgeschäftsstelle 153 Neueintritte.
Nun gilt es, ausreichend Wähler zu überzeugen. Dafür wird Nguyen demnächst an den Haustüren klingeln. Er werde eine »klassenorientierte Ansprache« wählen und mit den Menschen über zu hohe Mieten sprechen, über fehlendes Personal in Krankenhäusern, über Armut und Rassismus. Es sind Themen, »die man mir gut abnimmt«, hofft er. Vielleicht überzeugt er genügend von ihnen – und der Weg durch Tausende Haustüren führt tatsächlich ins Parlament.
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