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Berlin: Faule Ostereier für Obdachlose
Für eine ganzjährige Kältehilfe demonstrierten am Donnerstag Wohnungs- und Obdachlose vor der Senatssozialverwaltung
Es war kalt am vergangenen Donnerstagmorgen vor dem Haus der Senatsverwaltung für Soziales in Kreuzberg. Genauer gesagt waren es acht Grad Celsius bei einer Kundgebung mit 30 Menschen unter dem Motto »Faule Ostereier für Obdachlose«. Denn während viele Berliner*innen ihre Feiertage genießen, beginnt für Obdachlose die Zeit der eingeschränkten Kältehilfe.
»Und wieder mal sind wir gelandet«, ruft eine Sprecherin der Union für Obdachlosenrechte (Ufo), einer Interessenvertretung wohnungsloser Berliner*innen, auf der Kundgebung. Wohnungslos ist, wer keinen festen Wohnsitz oder privaten Wohnraum hat. Obdachlos, wer keinen festen Wohnsitz hat und deshalb im öffentlichen Raum oder in Notunterkünften übernachten muss. Die Zahl wohnungsloser Berliner*innen wird von Wohlfahrtsverbänden auf 50 000 geschätzt. Wie viele davon obdachlos sind, lässt sich nicht so einfach feststellen. Denn wer wachen Auges durch die Stadt läuft, sieht ständig neue Menschen auf der Straße schlafen – mal sichtbar unter einem S-Bahn-Bogen, mal versteckt im Gebüsch.
Auf dem Boden vor der Sozialverwaltung hat Ufo mehrere Isomatten und Schlafsäcke ausgerollt, symbolisch für Obdachlose. Das Angebot der Behörde an unbürokratischen Notschlafplätzen und zum Schutz vor dem Kältetod wird ab April begrenzt. Eine Sprecherin der Kältehilfe informiert »nd«: Im April seien noch »fast alle Kälteeinrichtungen« mit knapp 1000 Notübernachtungsplätzen geöffnet, von Mai bis Oktober seien es halb so viele. Im Winter gibt es 2000 Notschlafplätze in Berlin.
Ufo geht es aber nicht nur um ein paar hundert Notschlafplätze mehr oder weniger, sondern um die Abschaffung von Obdach- und Wohnungslosigkeit und die Durchsetzung des Rechts auf Wohnen. Um die Situation der Betroffenen zu verbessern, fordert die Organisation deshalb unter anderem eine unabhängige Beschwerdestelle für Obdach- und Wohnungslose, 24/7-Telefon-Hotlines für die Kältehilfe und kostenlose Toiletten.
Vor dem Gebäude der Sozialverwaltung baut der Künstler Martín Almiron eine Installation aus alten Aluminiumdosen und Pfannen auf. Er nimmt zwei Trommelstöcke in die Hand und eröffnet die Demonstration mit rhythmischer Musik auf selbstgebauten Instrumenten.
»Ich bin eigentlich kein Freund von Demos, weil das Anliegen häufig verpufft. Aber heute bin ich da«, sagt Thomas stolz zu »nd«. Er steht vor der Sozialverwaltung, weil er über das Thema »Erreichbarkeit« sprechen will. Seit September kämpft Thomas bei der Stadtmission in Hohenschönhausen für eine Unterbringung für sich. »Ständig muss ich Unterlagen neu einreichen, die angeblich nicht ankamen.« Er erklärt, wie schwierig es für Obdachlose ist, Termine pünktlich einzuhalten. »Man verliert das Zeitgefühl auf der Straße«, sagt er. Thomas erzählt außerdem, dass die Hotline der Kältehilfe, die in der Regel täglich fünf Stunden lang besetzt ist, an Weihnachten zwar rund um die Uhr besetzt, aber kaum zu erreichen war. Warum? Thomas meint, es habe an der Werbekampagne »Wärme spenden« gelegen. Diese von der Kältehilfe initiierte Kampagne rief zu Spenden aus der Zivilgesellschaft auf. Er vermutet, dass Spender*innen die Hotline mit ihrem Anliegen besetzten. »Da kann man von Dekadenz sprechen«, sagt Thomas. Er meint damit, dass die einen Hilfe brauchen und nicht bekommen, weil andere für ihre Zwecke diese Hilfe in Anspruch nehmen, wenn auch in guter Absicht.
Thomas hält auf der Kundgebung einen Redebeitrag. Leider ist er, so wie viele Sprecher*innen, trotz verstärkter Stimme am Mikrofon schwer zu verstehen. Denn ein Mann filmt die Demonstration der Ufo, filmt die Gesichter der Anwesenden. Die Veranstaltenden kennen ihn aus der rechten Szene. Immer wieder bitten Teilnehmende ihn, das Filmen zu unterlassen. Er schreit, stößt Menschen von sich weg und stört die Kundgebung.
»Es ist schön, dass so viele Unterstützer da sind, die zeigen, dass man nicht nach unten tritt. Gerade im Gegensatz zu Leuten, die hier stören«, sagt der Staatssekretär für Soziales Aziz Bozkurt (SPD), der ebenfalls an der Kundgebung teilnimmt. Bozkurt ist dankbar für die Initiative von Ufo und sagt, die Sozialverwaltung habe die Angebote für obdachlose Menschen sowie die finanziellen Mittel in den kommenden Jahren erheblich erhöht. Ein Sprecher der Sozialverwaltung sagt »nd«, der Senat wolle mithilfe von Ufo das Hilfesystem ausbauen und Obdachlosigkeit bis 2030 beenden. Eine siebte Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe finde im Juli statt. »Was uns am Ende jedoch nur helfen kann, sind mehr Wohnungen«, sagt Bozkurt.
»Seit acht Jahren bin ich in Deutschland ohne Wohnung«, ruft Faysal ins Mikrofon. Unüberhörbar hallt die Stimme des Jugendlichen über die Oranienstraße. Er wohnt mit seiner Mutter Setara und fünf weiteren Familienmitgliedern in einem Vierbettzimmer im Hostel am Kudamm. »Wir haben keine Küche, keine Waschmaschine«, sagt Setara. Im Interview mit »nd« erzählt sie, dass sie als Radiojournalistin für die International Security Assistance Force mit der Bundeswehr in Afghanistan gearbeitet habe. Die Taliban hätten sie deshalb zwingen wollen, Steuern an sie abzuführen. Als sie dem nicht nachkam, wurde ihr Sohn Faysal von den Taliban entführt. »Sie haben mich zwei Tage in einen Sarg gesperrt«, erzählt Faysal »nd«. Sein Vater habe ihn befreien können. Daraufhin begann für die siebenköpfige Familie eine 14-monatige Flucht mit verschiedenen Stationen in Afghanistan, bis das Visum zur Ausreise nach Deutschland bereitstand. Sicherheit gibt es für die Afghanen hier leider auch nicht. Gerade erst wurden sie von einem auf den anderen Tag vom Bezirksamt aus einer Übergangswohnung auf die Straße gesetzt. Setara erzählt, dass die Begründung gewesen sei, sie müssten für eine ukrainische Familie Platz machen. Sie zeigt ein Foto ihres Hausrats auf der Straße. »Vieles mussten wir zurücklassen«, sagt sie. Denn in dem möblierten Hostelzimmer ist kein Platz und bleiben können sie vorerst nur bis April. »Wir wissen nicht, was danach kommt.«
Auch Adam Spiegel wusste nicht, was kommen würde, als er sich vor zwei Jahren aus Katowice, Oberschlesien, nach Berlin aufmachte. Er spricht fließend Deutsch, das lernte er als Kind. In Berlin hangelt er sich nun von Nachtcafé zu Notunterkunft, um endlich einen deutschen Pass zu bekommen. Wenn er krank ist, muss er sich ohne Krankenversicherung an die Stadtmission wenden und wird dann vermittelt. »Ein bis zwei Wochen dauert es, bis ich einen Arzt sehen kann«, sagt Spiegel. Er spricht auch über Solidarität: zum Beispiel über das von Ufo angebotene Sprachcafé am Märkischen Museum, wo man viele Kontakte knüpfe.
Fernando ist einer der Menschen, die Spiegel im Sprachcafé kennenlernte. Fernandos Muttersprache ist Spanisch, deshalb hält er seinen Redebeitrag auf der Kundgebung gemeinsam mit einer Übersetzerin aus besagtem Café. »Heute möchte ich vor dem Berliner Senat sagen: Ohne Arbeit gibt es keine Wohnung. Man ist praktisch gezwungen, auf der Straße zu leben.« Im Interview mit »nd« findet er ein spanisches Sprichwort im Zusammenhang mit der Arbeit: »Del arbol caido muchas quieren hacer leña«, sagt er. Das heißt: Vom gefallenen Baum wollen viele Holz nehmen. Miese Bezahlung und fehlender Arbeitsschutz gehören zum Alltag Wohnungs- und Obdachloser. »Sogenannte Arbeitgeber«, sagt Fernando, »beuten Menschen ohne Papiere aus.«
Fernando spricht auf der Kundgebung über »undenkbare Orte«, die sich Wohnungs- und Obdachlose zum Schutz suchen. Das seien »Bäume oder Vordächer von Bauten, um nicht klitschnass zu werden.« Er nennt auch den Schutz vor rechter Gewalt. Wie nötig dieser ist, zeigt der schreiende Filmer, der die Kundgebung bis zuletzt stört. »Wir sind keine Wölfe im Schafspelz«, sagt Fernando. Er zieht ein weißes Tuch aus seiner Tasche: »Wir sind Bürger des Friedens«, ruft er und hält das Tuch unter Applaus in die Luft.
Hilfe-Hotline für obdachlose Menschen:
+49 (0) 157 8059780, Mo – Fr 9 – 17 Uhr
Kältehilfetelefon: (030) 34397140
bis April tgl. von 19 – 23 Uhr
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