Die menschlichen Überreste von Buchenwald

Der berühmte Lampenschirm des KZ Buchenwald besteht doch aus Menschenhaut. Wie die Gedenkstätte mit den »Human Remains« umgeht

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 7 Min.
Menschliche Präparate aus dem Konzentrationslager Buchenwald
Menschliche Präparate aus dem Konzentrationslager Buchenwald

Heute sind es nur noch wenige Fotografien, die vom sogenannten Großen Lampenschirm von Buchenwald zeugen – und vielleicht dieses eine Stück, das die KZ-Gedenkstätte vor genau einem Jahr aus Großbritannien bekommen hat. »Ganz offensichtlich ist dieser Lampenschirm gefleddert worden«, sagt der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner. Die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Teile dieses Lampenschirms nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rund um den Globus verteilt wurden, sei groß. Das Stück aus England könnte eins davon sein.

Eine der letzten Fotografien, die den Großen Lampenschirm als Ganzes zeigen, wurde am 16. April 1945 aufgenommen. Darauf zu sehen sind ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald, die auf einem Tisch vor sich menschliche Präparate zeigen: Hautstücke mit Tätowierungen, Schrumpfköpfe, ein durchschossenes Herz und eben den Schirm, das größte Exponat auf diesem Tisch. Das Foto zeigt ihn ganz rechts auf dem Tisch stehend, vielleicht 40 oder 50 Zentimeter hoch und nicht sehr viel kleiner im Durchmesser.

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Auch er bestand wahrscheinlich aus Menschenhaut. Das mutmaßliche Teil des Großen Lampenschirms, das jüngst aus Großbritannien seinen Weg zurück nach Buchenwald gefunden hat, wäre demnach auch ein Stück menschlicher Haut. Die Form, die dieses Stück hat, passt anderen Fotografien nach ziemlich genau zu diesem Schirm.

Doch Wagner und sein Team wollten sich nicht einfach mit der Feststellung zufriedengeben, das aus Großbritannien übersandte Stück sei wahrscheinlich Haut und es gehöre zum Großen Lampenschirm von Buchenwald. Denn seit Jahren schon wird viel gemutmaßt, verdreht und bewusst manipuliert, wenn es um die Geschichte Buchenwalds geht. Wagner will gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse gegen das setzen, was sich an Geschichtsrevisionismus in den sozialen Netzwerken und – ganz analog – auf rechtspopulistischen oder rechtsextremen Veranstaltungen aller Art Bahn bricht.

Deshalb wird dieses mutmaßliche Teil des Großen Lampenschirms nun ebenso genau untersucht, wie auch andere menschliche Präparate ganz präzise begutachtet werden, die sich im Archiv der Gedenkstättenstiftung befinden. Einige von ihnen werden dabei nun zum wiederholten Male untersucht, wobei frühere Studienergebnisse revidiert werden.

Der Umgang mit solchen fachsprachlich »Human Remains«, also menschliche Überbleibsel, genannten Objekten ist insbesondere für die Gedenkstätte Buchenwald eine Gratwanderung. Denn einerseits vermitteln solche menschlichen Hinterlassenschaften den allermeisten Besuchern wohl eine sehr eindringliche Vorstellung davon, was für ein Ort des Grauens das Konzentrationslager Buchenwald war; jener Ort, an dem zwischen 1937 und 1945 etwa 56 000 Menschen ermordet wurden und an dem die SS manchen Toten Hautfetzen aus dem Körper schnitt, um daraus – wie die nationalsozialistischen Täter das nannten – »Geschenkartikel« herzustellen. Aus Großbritannien hat die Stiftung zuletzt auch ein Messeretui erhalten, das wohl aus Menschenhaut hergestellt wurde. Auch dieses Zeugnis der Vergangenheit wird nun begutachtet.

In keinem anderen deutschen Konzentrationslager wurden die Körper der Toten auf diese Weise behandelt, wurden sie zum Rohstoff zur Herstellung von Objekten gemacht, die später – wie der Große Lampenschirm – dazu bestimmt waren, die Täter an ihre Taten zu erinnern. »Das ist offensichtlich ein Buchenwalder Spezifikum«, sagt Wagner. Ein Foto zeigt den Großen Lampenschirm auf einem Schreibtisch im Dienstzimmer des damaligen KZ-Kommandanten Hermann Pister stehend.

Andererseits aber gibt es viele gute Gründe, diese »Human Remains« zumindest heute nicht mehr als Teil von Ausstellungen zu zeigen. Viele Besucher überwältige der Anblick solcher Ausstellungsstücke, so Wagner. Dazu kämen konservatorische und natürlich in allererster Linie ethische Gründe. Weil es sich dabei um Teile von Menschen handele, müssten sie eigentlich bestattet werden. Weil all das aber auch »Beweise für die hier begangenen Verbrechen« seien, bewahre die Gedenkstätte sie in einem eigens dafür klimatisierten Archiv auf.

Insgesamt zwölf derartige Objekte gibt es in den Beständen der Stiftung derzeit. Eines davon erzählt ebenso sehr von der Brutalität des Lagerlebens wie von den ganz besonderen Bindungen, die dort zwischen manchen Häftlingen entstanden waren.

Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wende war der Umgang mit den »Human Remains« auf dem Gelände Buchenwalds ein anderer. Über viele Jahre hinweg war dort zum Beispiel das durchschossene Herz ebenso Teil von Ausstellungen gewesen wie mehrere tätowierte Hautstücke und der Kleine Lampenschirm von Buchenwald, der eine ganz besondere, makabere Anziehungskraft auf die Besucher ausübte. Wagner sagt, bis heute würden Mitarbeiter der Gedenkstätte von Besuchern gefragt, wo sie denn diesen Kleinen Lampenschirm sehen könnten, von dem viele von ihnen schon einmal irgendwas gehört haben, oft in Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern.

Im Gegensatz zum Großen Lampenschirm war der Kleine Lampenschirm offenbar nicht für einen Schreibtisch bestimmt, sondern für einen Nachttisch. Nach Angaben der Gedenkstätte stammt er aus einem der Häuser der Villensiedlung der SS, die am Rande des Konzentrationslagers lag. Anders als der Große Lampenschirm ist der Kleine Lampenschirm bis heute in der Sammlung der Stiftung erhalten geblieben.

Eben dieser Kleine Lampenschirm ist ein Beispiel dafür, dass die neuen Untersuchungen zu den mutmaßlichen Objekten menschlichen Ursprungs Erkenntnisse liefern können, die bisherige Forschungsergebnisse revidieren. Das kann dazu beitragen, Geschichtsrevisionisten in die Schranken zu weisen, die allzu gerne behaupten, in Buchenwald seien gar keine »Geschenkartikel« aus Menschenhaut gemacht worden; wer Gegenteiliges behaupte, wolle nur den deutschen »Schuldkult« fördern und »den Deutschen« Verbrechen anhängen, die sie nie begangenen hätten.

Als angeblichen Beleg für ihre Behauptung führen Rechte regelmäßig ein 1992 erstelltes Gutachten zu diesem Kleinen Lampenschirm an, das zu dem Ergebnis gekommen war, er sei nicht aus Menschenhaut, sondern aus Kunststoff gefertigt worden. Der nun von der Stiftung beauftragte Kriminalbiologe Mark Benecke kommt zu einem ganz anderen Schluss: Er ist der festen Überzeugung, dass das nicht stimmt. Das Material des Kleinen Lampenschirms weise Muster auf, die »nur menschlich sein können«, sagt Benecke. Das Gewebe zeige Muster, die es bei Kunststoff gar nicht gebe.

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Dass das Gutachten vor etwa 30 Jahren zu einem anderen Ergebnis gekommen sei, liege vor allem an den damals und heute verfügbaren wissenschaftlichen Methoden. »Das damalige Gutachten ist nach dem Stand der Zeit gemacht«, sagt Benecke. Es habe aber damals einfach niemand Erfahrung mit Menschenhaut gehabt, die so gegerbt wurde, wie die SS das in Buchenwald tat. Mit modernen wissenschaftlichen Methoden untersucht, könne es aber keinen Zweifel daran geben, dass der Kleine Lampenschirm aus Menschenhaut gemacht worden sei. Das gelte umso mehr, weil das Labor, das die entsprechende Probe untersucht habe, »nicht mal den Hauch einer Ahnung« gehabt habe, zu was für einem Objekt sie gehöre.

Aus Sicht von Wagner verfestigt schon alleine das neue Gutachten zum Kleinen Lampenschirm einen wissenschaftlichen und ethischen Befund zum Nationalsozialismus, der zwar nicht neu ist, aber umso bedeutender in Zeiten, in denen die Umdeutung der deutschen Geschichte immer salonfähiger wird: Dass in Buchenwald aus der Haut von Menschen »Geschenkartikel« hergestellt worden seien, zeige, »dass die SS komplett dehumanisiert war«, sagt Wagner. Ihre Mitglieder hätten sich an keinerlei moralische Konventionen oder Gebote gehalten.

Ein anderer menschlicher Überrest aus der Zeit des Konzentrationslagers, der in den Archiven der Gedenkstättenstiftung lagert, ist dagegen ein Beweis dafür, welch tiefe Bande es an diesem Ort zwischen einzelnen Häftlingen gab. In der Sammlung der Stiftung, sagt Wagner, gebe es auch einen Totenkopf, der wohl nicht im Auftrag der SS von einer Leiche abgetrennt worden sei. Nach Angaben Wagners stammt dieser Totenkopf aus dem Nachlass eines Häftlings, den die SS gezwungen hatte, in der Pathologie des Lagers zu arbeiten. Dieser Mann, sagt Wagner, habe eines Tages die Leiche seines besten Freundes vor sich liegen sehen, ermordet von der SS. Also habe er dafür gesorgt, dass der Schädel des Mannes vom Rest seines Körpers abgetrennt wurde, um ihn dann später – nach der Befreiung des Lagers am 11. April 1945 – mit nach Hause zu nehmen, als Andenken an einen ganz engen Vertrauten, »den er im KZ verloren hat«, sagt Wagner. Aus diesem Verhalten spreche in keiner Weise eine Abkehr vom Menschsein oder ein respektloser Umgang mit den Toten. »Das erzählt viel darüber, wie die Häftlinge mit dem Grauen im KZ umgegangen sind.«

Die Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V. und Nachkommen der KZ-Häftlinge laden zu einer Veranstaltung über Zwangsarbeit auf dem Ettersberg am 14. April, 10 Uhr, in den Kinosaal der Gedenkstätte ein.

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