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Zum Ramadan nach Istanbul? Gedankenspiele in der Blauen Moschee
Eine kleine Episode zeigt, dass Fastenbräuche wie das Trommeln in der Nacht nicht nur Alarmanlagen in Gang bringen
Ramadan-Trommler ist wahrscheinlich einer der undankbarsten Jobs der Welt. Um kurz vor zwei Uhr in der Früh zieht er paukend durch die Straßen des Istanbuler Kurtulus-Viertels, damit alle gläubigen Muslime rechtzeitig erwachen und ihr »suhur« essen können – die letzte Mahlzeit, bevor das tägliche Fasten zum Sonnenaufgang beginnt. Die Vibration der Trommel bringt leider auch immer die Alarmanlagen mehrerer Autos in Gang. Die Folge sind aufgerissene Fenster, aus denen Flüche, Beschimpfungen und manchmal auch eine Eimerladung Wasser fallen.
Ramadan in Istanbul: Das ist nicht nur die Zeit des Fastens und frühen Aufstehens, sondern auch die Zeit der sozialen und kulturellen Höhepunkte. Von den Minaretten strahlen Lichterketten in Buchstabenform religiöse Botschaften aus. Große Plätze verwandeln sich in Bühnen für Konzerte, Tanzvorführungen und Schattenfigurentheater. Zum abendlichen Fastenbrechen ziehen Familien mit Wolldecken, Klappstühlen und Kühlboxen zum Picknick in die Parks, und die Gegend rund um das Hippodrom wird für die Dauer des Fastenmonats zu einer Art Jahrmarkt, der von klebrigen Leckereien über Gebetsketten bis zum modischen Kopftuch alles für das Ramadan-Shopping nach Sonnenuntergang bereithält. Tagsüber jedoch liegt eine schläfrige Stimmung über der Stadt und das Leben läuft langsamer als üblich.
Wer jeden Tag noch vor der Morgendämmerung aus dem Schlaf getrommelt wird, fühlt sich logischerweise gerädert und erschöpft. Wer gar nicht fasten muss, ist besonders genervt, und so ist die Ramadan-Trommelei nicht bloß in Kurtulus, einem überwiegend von Nicht-Muslimen bewohnten Stadtviertel Istanbuls, unbeliebt. In vielen Orten der Türkei diskutieren religiöse und säkulare Muslime über die Abschaffung dieser Tradition, und regelmäßig berichten die Zeitungen von Massenprügeleien zwischen Befürwortern und Gegnern.
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Statt Ramadan-Trommler ist der Job als Teppichreiniger oder Staubsaugervertreter in Istanbul eindeutig die bessere Wahl. Und krisensicher noch dazu. Müde, weil auch mich der Trommler seit einer Woche aus dem Schlaf schlägt, sitze ich im Innenhof der Blauen Moschee und sinne über all die wunderbare Auslegeware nach, die Istanbuls Gebetshäuser gleich zu Tausenden Quadratmetern füllen. Wer die alle schmutz-, staub- und vielleicht sogar milben- und mottenfrei hält, hat Arbeitslosigkeit nicht so schnell zu fürchten.
In diese Überlegungen plärrt eine Besuchergruppe, schenkt mir aber damit gleich einen neuen Gedanken: Viel braucht es nicht, um lächerlich auszusehen. Es reicht schon ein schlumpfblaues Tuch, das einem Touristen Blöße bedeckend um Muskelshirt und Minirock gewickelt wird. Zumal noch einige Hundert ebenfalls blau umhängte Mitmenschen hinzukommen, die man nun für eine Pool-Party- oder Sauna-Gesellschaft halten könnte, stünden sie nicht inmitten einer Moschee.
Zwischen all den Blauen taucht plötzlich ein Aschgrauer auf. Unter der Kapuze seines schmuddeligen Sweatshirts quillt filziges Haar hervor und rahmt das blinkende Flipperspiel seines Gesichts: permanentes Augenflackern, Zucken der Wangenmuskeln und Zittern der Lippen. Wie ein Tier im Käfig schreitet er jetzt den Innenhof der Moschee ab, Seite um Seite, immer und immer wieder. Für Sekunden presst er seine Stirn nun gegen die Marmorwand, stößt sich dann mit beiden Händen wieder kräftig davon ab und beginnt sich wie einer jener Derwische des Sufi-Ordens zu drehen, die durch ihren ekstatischen Trancetanz Kontakt mit Allah aufnehmen wollen. In Istanbul sind sie mit ihrem Drehtanz zur Touristenattraktion geworden, quasi als folkloristische Variante des Islams.
Auch der Aschgraue zieht Aufmerksamkeit auf sich. Schnell und schneller kreiselt er jetzt. Seine aufgerissenen Hosenbeine flattern, und aus seiner mit ihm rotierenden Umhängetasche stieben Zigarettenstummel, Brotkanten und zerknülltes Papier heraus und landen weit über den ganzen Boden verteilt – ausgestreute Habseligkeiten. Dann, als hätte jemand die Stopptaste gedrückt, hält er an und schaut mir direkt in die Augen. Es ist ein von allen Geistern verlassener Blick, dem ich nicht standhalten kann. Ich schaue am Aschgrauen herab und ende bei seinen nackten Füßen, kohlschwarz mit Zehennägeln, so lang und krumm wie Bärenkrallen. Was ist stärker – meine Angst oder mein Mitleid?
Ich überlege lange und entscheide mich endlich dafür, ihm etwas Geld zu geben. Als er nun wieder in meine Richtung läuft, gehe ich schnell auf ihn zu. Doch bevor ich ihm wirklich nahekomme, prallt er an mir ab, mit solch einer Heftigkeit, dass auch ich einen Satz zurückmache. Zwei Magneten mit gleicher Ladung, denke ich. Einmal in Bewegung geraten, können wir nicht mehr anhalten. Er beginnt wieder zu kreiseln, ich steuere auf den Ausgang zu und speichere noch das Bild seines Drehens, die Arme seitlich ausgestreckt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, so als wäre er bereit, alles Gute von oben zu empfangen.
Stattdessen greifen ihn nun zwei Hände von der Seite und führen ihn aus dem Innenhof ab. Hat er die Schlumpfblauen geängstigt? Weit weg bringen ihn die Wachmänner nicht. Ich entdecke ihn auf der untersten Treppenstufe des Moschee-Eingangs sitzend. Er hält eine jener Styroporpackungen in der Hand, in denen jeden Abend nach Sonnenuntergang das Iftar-Mahl zum Fastenbrechen verteilt wird. Überall in der Stadt lassen Gemeinden und private Sponsoren Zelte aufstellen, in denen nicht nur fastende Muslime, sondern auch Obdachlose, Andersgläubige und Touristen zur gemeinsamen Iftar-Mahlzeit zusammenkommen können. Auch wer im Stau steckt, wird von seinem Hunger erlöst. Mobile Buffets versorgen die Autofahrer mit Wasser, Tee, Brot und Datteln.
Noch ist die Sonne aber nicht untergegangen. Der Aschgraue hat sein Paket vermutlich erhalten, um die Besucher der Moschee nicht weiter zu stören. Er hat die Packung geöffnet und verfüttert den Inhalt an zwei Katzen. Was für ein Idiot! Oder? Während des Ramadan-Fastens sollen die Gläubigen erleben können, wie es Menschen ergeht, die kein Essen haben. Ein letztes Mahl zur Morgendämmerung, dann Verzicht bis zum Sonnenuntergang, immer in der Gewissheit, dass am Ende des Tages das Darben ein Ende hat. Weiß man nach solchem Fasten, wie sich der fühlt, der am Ende keines Tages von seinem Hunger erlöst wird?
Der Kabarettist Wolfgang Neuss kommentierte das so: »Askese wird erst durch Luxus möglich, andernfalls ist es Armut.« Die beiden Katzen schnappen nach den letzten Fleischstückchen, die ihnen der Aschgraue zuwirft. Dann klappt er den Deckel der Styroporpackung wieder zu und steckt sie in seine Umhängetasche. Ein wenig Reis und Brot und eine Flasche Wasser sind noch darin. Vielleicht wartet er auch auf den Sonnenuntergang, vielleicht darauf, dass Hunger und Durst zu groß werden.
Ich würde jetzt gern die Arme ausbreiten und mich drehen, schnell, schneller, bis der Schwindel einsetzt und ich mich auf die unterste Treppenstufe fallen lassen kann. Natürlich traue ich mich nicht. Ich laufe quer durch die Stadt nach Kurtulus zurück, setze mich vor meinen Hauseingang und warte auf den Ramadan-Trommler. Ich möchte dabei sein, wenn das Wummern wieder die Alarmanlagen der Autos in Gang setzt, sich Fenster und Münder öffnen und Flüche auf uns herabfallen. Echten Hunger leidet in Kurtulus kaum einer, echten Schlafmangel aber schon. Zeit, die man länger im wachen Zustand verbringt, kann auch Zeit zum Nachdenken sein. Die Vorstellung, dass in der ganzen islamischen Welt viele wache Denker in der Dämmerung sitzen – Muslime und Nicht-Muslime – freut mich. Wahrscheinlich wären Teppichreiniger oder Staubsaugervertreter doch die schlechteren Jobs.
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