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Neukölln Komplex: Zwölf Jahre Kampf um Gewissheit
Der Tod von Burak Bektaş jährt sich am Freitag zum zwölften Mal, die Forderung nach Aufklärung bleibt
»Unser Schmerz findet kein Ende, unser Schmerz ist zu groß. Und die, die wir verloren haben, können wir nie wieder zurückbringen. Unsere ganze Hoffnung ist, dass kein weiterer Burak sterben muss. Wir wollen Gerechtigkeit für alle Buraks.« Was Melek Bektaş in einer bewegenden Rede vor dem NSU-Tribunal in Köln 2017 über den Tod ihres Sohnes gesagt hat, gilt auch heute, zwölf Jahre nach dem Mord.
Burak Bektaş wurde in der Nacht vom 4. auf den 5. April 2012 in Berlin-Neukölln vor dem Vivantes-Klinikum auf offener Straße erschossen. Wer ihn ermordet und zwei seiner Freunde lebensgefährlich verletzt hat, ist bis heute nicht klar, denn die Behörden versagten bislang bei den Ermittlungen.
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So zogen die damaligen Ermittler*innen Rassismus als Mordmotiv nicht in Betracht. Auch verfolgten sie einen Hinweis auf einen möglichen Verdächtigen nicht: Rolf Z. wurde später für den Mord an Luke Holland verurteilt, den er am 20. September 2015 in Neukölln erschossen hatte. Ein Mord, der vielleicht hätte verhindert werden können. In der Wohnung des Verurteilten wurde eine Waffe gefunden, von der laut einem Gutachten nicht auszuschließen ist, dass sie bei dem Mord an Burak verwendet wurde, wie der RBB 2018 berichtete. Außerdem fand die Polizei in Z.s Wohnung NS-Devotionalien wie eine Hitler-Büste. Z. soll sich am Abend vor dem Mord an Holland wiederholt fremdenfeindlich geäußert haben. Trotzdem wurde die Tat vom verurteilenden Gericht nicht als politisch motiviert eingestuft; ein Zusammenhang mit Buraks Mord nicht hergestellt.
Die Ermittlungen zum Mord an Burak wurden 2021 noch einmal neu aufgerollt. Aber auch dieses Mal konnte nicht abschließend ermittelt werden, wer der Täter war.
Zuletzt wurde im Dezember 2023 öffentlich, dass im LKA Berlin 364 Fälle rechtsextremer Straftaten nicht bearbeitet wurden. Der frühere Kommissariatsleiter des Berliner Staatsschutzes, gegen den nun wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt wird, war auch leitender Mordermittler im Fall Burak Bektaş.
Dass die Aufklärungsversuche überhaupt weitergehen und der gewaltsame Tod des damals 22-Jährigen nicht in Vergessenheit gerät, liegt alleine an der ausdauernden Arbeit seiner Familie, Freund*innen und der »Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş«.
Über die Entstehung der Initiative erzählt Helga Seyb als Vertreterin dieser in einem Gespräch mit dem »nd«. Der Mord geschah ein halbes Jahr, nachdem sich der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) enttarnte. Darum sei der Gedanke nach Buraks Tod bei vielen gewesen: »Es geht weiter.« So haben sich bei der Initiative Menschen angeschlossen, die verstanden hätten: »Nie wieder dürfen Betroffene mit der Aufklärung alleine gelassen werden.« Die Initiative sieht sich als Plattform, bei der Angehörige, Befreundete, linke Strukturen, Opferberatungsstellen, politische Künstler*innen und verschiedene Menschen aus der Nachbarschaft in Austausch kommen können.
Nach jahrelangen lauten Forderungen gibt es seit 2022 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. In diesem wird Buraks Mord zusammen mit dem sogenannten Neukölln-Komplex, einer jahrelang andauernden Serie rechter Angriffe gegen migrantische und antifaschistische Menschen im Süden Neuköllns, angegangen.
»Das ist eine Möglichkeit, diese ganzen Taten öffentlichkeitswirksam im Gespräch zu halten«, erzählt Helga Seyb weiter. Außerdem könnten so diejenigen, die dafür verantwortlich seien oder sein könnten, in die Situation gebracht werden, sich für alles rechtfertigen zu müssen, was sie gemacht oder eben nicht gemacht haben.
Der Erkenntnisgewinn sei bisher allerdings ernüchternd, so Seyb. Zudem sitzen im Ausschuss auch AfD-Politiker*innen. Das stelle eine prekäre Situation dar, da diese dadurch Zugriff auf Informationen über Betroffene aus den Akten haben. »Das ist einfach kein sicheres Gefühl, wenn da Leute sitzen, die Informationen kriegen, von denen du nicht weißt, wo sie später landen«, beschreibt Helga Seyb ihre Bedenken. Man wisse ja, dass aus Akten heraus schon rechtsextreme Feindeslisten geführt worden seien.
Sie bringt die Gesamtsituation mit einem Zitat der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano auf den Punkt: »Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.« Man müsse stattdessen gute Nachbarschaften aufbauen, sich gegenseitig unterstützen, recherchieren, rechte Leute im Blick behalten. Sich selbst organisieren und lernen, sich zu schützen, aber die Behörden niemals aus ihrer Verantwortung nehmen, aufzuklären.
Morgen, am 6. April, rufen Familie, Freund*innen und die Initiative zum gemeinsamen jährlichen Gedenken auf. Um 15 Uhr am Gedenkort für Burak in der Rudower Straße/Ecke Möwenweg wird es eine Gedenkkundgebung geben.
Das Denkmal mit dem Namen »Algorithmus für Burak und ähnliche Fälle«, gestaltet von der Künstlerin Zeynep Delibalta, wurde 2018 eingeweiht. Seither wurde das Denkmal dreimal angegriffen, zuletzt 2021 mit einer Hakenkreuz-Schmiererei. Das zeigt klar: Es gibt eine Kontinuität von rechtem Terror in Neukölln. Die Initiative wird auch deswegen nicht aufhören, Aufklärung zu fordern: »Gemeinsam machen wir Druck und machen klar, dass es keine Ruhe geben wird, bis der Mörder von Burak zur Verantwortung gezogen wurde – und bis aufgeklärt wurde, wieso die Aufklärung so lange auf sich warten lässt.«
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