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Kambodscha: Das Terrorregime der Roten Khmer war gnadenlos
Ein Besuch im Folter- und Vernichtungslager S-21 in Kambodscha
Ein weitläufiger Schulcampus in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, gesäumt von Palmen, Kokos- und Mangobäumen. Ein paar verrostete Stangen aus Stahl stehen auf dem Hof. Sie erinnern an ein Gestell, an dem vielleicht einmal Schaukeln hingen. Ab 1975, das ist gewiss, dienten sie dazu, die Insassen des berüchtigten Gefängnisses S-21 bzw. Tuol Sleng zu foltern: Ihnen wurden die Hände hinter dem Rücken mit einem Seil zusammengebunden, dann wurden sie hochgezogen und hängen gelassen – bis zum Eintritt der Bewusstlosigkeit.
Wer den Rundgang in einem der vier grauen ehemaligen Schulgebäude beginnt, wird mit den Abgründen der menschlichen Spezies konfrontiert: Die einstige Oberschule, heute ein Museum, hatten die Roten Khmer zum wichtigsten der insgesamt 196 Gefängnisse in Kambodscha erkoren. Im Erdgeschoss hängen Hunderte Fotos von Gefangenen, die am Tag ihrer Einlieferung aufgenommen wurden. Anschließend »erlebten wir die Hölle auf Erden«, so Bou Meng, einer von sieben erwachsenen Überlebenden des Folterzentrums, das in den vier Jahren der Terrorherrschaft mehr als 14 000 Gefangene zählte. Er wurde 1976 zusammen mit seiner Frau Ma Yoeun verhaftet und nach S-21 gebracht, fotografiert und mit einer Nummer versehen. Seine Frau hat er danach nie wiedergesehen. Bou Meng, fortan nur noch Gefangener Nr. 570, wurde wochenlang gefoltert und musste Geständnisse erfinden.
Grausame Foltermethoden
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Zunächst kam er, entkleidet bis auf die Unterhose, in eine Massenzelle, die er mit 50 weiteren angeketteten Gefangenen teilen musste. Einige wenige »Bessergestellte« mussten sich in Einzelzellen zwängen, gerade mal zwei Quadratmeter groß. »Wir schliefen auf dem nackten Boden und hatten keine Decken«, erinnert sich Bou Meng. Alle mussten sich strengen Vorschriften unterwerfen: Lachen, Weinen, Sprechen und sonstige Kommunikation waren verboten. Zuwiderhandlungen wurden mit Prügelstrafe oder Elektroschocks geahndet, wobei die Opfer nicht schreien durften.
Als Foltermethoden kamen im S-21 außerdem Waterboarding – das Untertauchen in Wasserbottichen –, Daumenschrauben, das Herausreißen von Finger- und Zehennägeln und das Einleiten von Säure oder Alkohol in die Nase zum Einsatz. Jede Nacht habe er »Menschen weinen und seufzen« gehört, so Bou Meng. Die minutiös festgehaltenen Folterverhöre und Fotos der Opfer werden bis heute vom Documentation Center of Cambodia ausgewertet.
Verhungert im Kinderheim
Die ersten Insassen von S-21 waren Soldaten und Beamte des gestürzten und korrupten Lon-Nol-Regimes. Bis zur Befreiung des Gefängnisses durch vietnamesische Streitkräfte inhaftierten die Roten Khmer außerdem Intellektuelle, Studierende, buddhistische Mönche und Angehörige ethnischer Minderheiten wie Vietnamesen und muslimische Tscham – kurzum alle, die nicht ihrem Gleichheitsideal entsprachen –, ab 1976 dann auch vermeintliche Abtrünnige aus den eigenen Reihen, die politischen Säuberungswellen zum Opfer fielen.
Zu den Anhängern der Roten Khmer gehörte anfangs auch Bou Meng, der in einer armen Bauernfamilie aufgewachsen war. Er fühlte sich schon in den frühen 70er Jahren von den revolutionären Parolen der Roten Khmer angezogen – wie so viele, die gegen den zunächst vom Westen unterstützten Militärdiktator Lon Nol aufbegehrten. Der Kampf, so wurde ihnen vermittelt, ging gegen »amerikanische Imperialisten, Feudalisten und Kapitalisten, die die Armen unterdrücken«, so Bou Meng.
Das Terrorregime der Roten Khmer überlebten insgesamt nur fünf Millionen der ehemals sieben Millionen Kambodschaner*innen. Knapp zwei Millionen, mehr als ein Viertel der damaligen Bevölkerung, kamen von 1975 bis 1979 ums Leben: viele in den Gefängnissen und auf den berüchtigten Killing Fields, den über das ganze Land verteilten Stätten des Massenmords. Noch mehr starben durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die zu Hungersnöten führte.
Nur weil er ein sehr geschickter Maler war, blieb Bou Meng von der Ermordung verschont und musste Portäts von Pol Pot malen. Seine Frau wurde nach Aufzeichnungen des Folterzentrums am 16. August 1977 gefoltert und getötet. Seine Kinder kamen in ein Kinderheim, wo sie schließlich verhungerten.
Die Ideologie der Roten Khmer hatte starke nationalistische und rassistische Elemente, kombiniert mit einer Art »Agrarkommunismus«, der auf eine Glorifizierung des Bauerntums und eine feindselige Haltung gegenüber dem städtischen Leben hinauslief. Das spiegelte sich nicht nur bei den Inhaftierungen wider, sondern auch im allgemeinen politischen Handeln: Nach der Eroberung der Macht und dem Einmarsch in Phnom Penh entvölkerten die Roten Khmer die Zwei-Millionen-Metropole und verwandelten sie innerhalb weniger Tage in eine Geisterstadt.
Die Deportation der Stadtbevölkerung auf die Reisfelder des Landes mündete in einen »langen Marsch«, der bis zu einem Monat dauerte, bei dem Tausende Menschen angesichts der Strapazen starben, insbesondere Ältere und Kinder. Die Überlebenden waren gezwungen, harte Feldarbeit zu verrichten und eine schwarze Einheitskleidung zu tragen, die jede Individualität beseitigen sollte.
Die Sprecher der Roten Khmer verkündeten den Beginn eines neuen revolutionären Zeitalters, in dem jede Form der Unterdrückung und der Gewaltherrschaft abgeschafft sei. Pol Pot, Führer der Roten Khmer, schaffte Geld, Märkte und Privateigentum ab und sprengte bereits 1975 die Zentralbank, um seinen Standpunkt zu unterstreichen.
Einige linke Organisationen hierzulande hielten die Berichte über das brutale Regime der Roten Khmer für Propagandalügen des kapitalistischen Westens – unter anderem die KPD (AO) und der Kommunistische Bund Westdeutschlands, die von einer Kulturrevolution nach maoistischem Vorbild schwärmten.
Auch die nationale und internationale Aufarbeitung des Völkermords zog sich nach 1979 hin – das lag unter anderem daran, dass der Westen nach dem Sturz von Pol Pot und seinem Terrorregime durch die vietnamesische Armee die Roten Khmer jahrelang weiterhin als einzig legitime Regierung Kambodschas anerkannte. »Im Vergleich zum sozialistischen Vietnam, das den Massenmord im Nachbarland durch Eroberung beendet hatte, galten die Massenmörder als das kleinere Übel, so sahen es vor allem die USA«, so die Publizistin Charlotte Wiedemann in ihrem Buch »Den Schmerz der anderen begreifen – Holocaust und Weltgedächtnis«.
Niemand konnte sich retten
Erst in den 2000er Jahren kam es zu einem Sondertribunal, bei dem einige wenige Täter verurteilt wurden, unter anderem der Leiter des S-21: Der brachte den zumeist jungen Männern und Frauen, die meisten Anfang 20, die Foltertechniken bei. »Ich und alle anderen, die an diesem Ort arbeiteten, wussten, dass jeder, der dorthin kam, psychologisch zerstört und durch ständige Arbeit eliminiert werden musste und keinen Ausweg bekommen durfte«, sagte Kaing Guek Eav mit Kampfnamen »Genosse Duch« während des Tribunals. »Keine Antwort konnte den Tod verhindern. Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance, sich zu retten.« Eine persönliche Verantwortung wies er auch dort von sich: »Ich hatte keine Alternative«, sagte er, »ich habe gehorcht.« Er sei »wie jeder andere in der Maschinerie gewesen«.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1998 mussten die Angehörigen der Opfer weiter mit den Tätern leben, weil außer einigen wenigen niemand verurteilt wurde. Sie waren auch unter Hun Sen, der Kambodscha von 1985 bis zum Sommer 2023 als Premierminister regierte, leitende Beamte, Armeeoffiziere und Bürgermeister.
Hun Sen, früher selbst Offizier der Roten Khmer, der 1977 zu den Vietnamesen übergelaufen war, hatte sich sogar mehrfach öffentlich über Sinn und Zweck des Sondergerichts mokiert und Ermittlungen gegen weitere Täter blockiert. Heute gehören er und seine Verwandten zu den reichsten Familien in Kambodscha, ihr Vermögen wird auf etwa eine Milliarde US-Dollar geschätzt. In Kambodscha gibt es weder kritische Medien noch eine Gewaltenteilung. Es herrscht Willkür und Vetternwirtschaft.
Die meisten prominenten Mitglieder der Oppositionsparteien sind entweder im Exil, in Haft, unter Hausarrest oder ermordet. Die Elite des Landes stellt ihren Reichtum schamlos zur Schau, während viele der 16 Millionen Kambodschaner in Armut und Angst leben. Das kollektive Trauma ist nie bearbeitet worden. Statt einer Aufarbeitung der Vergangenheit und öffentlicher Daseinsvorsorge gibt es überall Mikrokredite, die eine massenhafte Überschuldung zur Folge haben; Streiks und Proteste werden ohne Rücksicht auf Verluste niedergeschlagen.
In Kambodscha wird heute die Geschichte der Roten Khmer unter anderem als Rechtfertigung für einen völlig hemmungslosen Kapitalismus benutzt. Auf Wunsch von Hun Sen wurde vor wenigen Jahren das Museum für Wirtschaft und Geld eröffnet. Es ist untergebracht in einem Verwaltungsgebäude der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich: imperiale, weitläufige Architektur, ein großer Garten, Klimaanlage, renoviert für viele Millionen Dollar. »Kambodscha hat eine besondere Beziehung zum Geld und diesbezüglich eine recht eigenwillige Geschichte« erklärt Blaise Kilian, der Vize-Direktor des Museums.
In der Geschichte Kambodschas gab es tatsächlich zweimal Zeiten ohne jedes Geld: Die erste Phase ist bis heute der Bezugspunkt für den Nationalstolz: das Königreich der Angkor.
Vom Maoismus zum Kapitalismus
Die zweite Phase gehört zum finstersten Kapitel der Landesgeschichte: die kurze Herrschaft der Roten Khmer. Ein Videoclip bringt die Abschaffung des Geldes mit der Grausamkeit der Roten Khmer in Verbindung: »Die Abschaffung aller Arten von Geld war eine einzigartige Entscheidung. Keine Revolution hatte dies je zuvor gewagt. Die Roten Khmer dachten, dass sie damit die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigen würden. (…) Das Geld abzuschaffen führte zur Unterdrückung der Freiheit und der alten sozialen Werte. Ohne Währung wurde die Preis- und Werteskala zerstört. Nichts mehr hatte einen Wert, ob Ware oder Mensch.« Statt eines abstrakten Gleichheitsideals wird nun das Geld angebetet. Kambodscha hat sich gewandelt: vom brutalen Ultra-Maoismus hin zu einer korrupten Vetternwirtschaft und einem entfesselten Kapitalismus.
Bou Meng war nie im Geldmuseum. Er würde es auch nicht wagen, gegen Hun Sen oder seinen Sohn und Nachfolger Hun Manet, Premierminister seit Sommer 2023, das Wort zu erheben. Aber er hat Bilder über die Schrecken von S-21 gemalt, ist dort immer wieder und auch für Besucher ansprechbar. »Die Schatten der Vergangenheit verfolgen uns bis heute«, so Bou Meng, der 2009 im Rote-Khmer-Tribunal gegen Duch, den Leiter von S-21, aussagte. Wegen zahlreicher Interventionen Chinas, der Vereinigten Staaten und Hun Sens konnte das Tribunal erst 2006 mit seiner Arbeit beginnen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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