Chemnitz: Ein Raum für Aufklärung in der »Täterstadt«

In der sächsischen Stadt entsteht das bundesweit erste Dokumentationszentrum zum NSU, aber nicht der zentrale Gedenkort für dessen Opfer

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 9. September 2025 wird ein Vierteljahrhundert vergangen sein, seit der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) seinen ersten Mord beging. An seinem Blumenstand an einer Ausfallstraße von Nürnberg wurde der 38-jährige Enver Şimşek niedergeschossen, er starb im Krankenhaus. 25 Jahre danach wird, wenn alles nach Plan geht, ein Dokumentationszentrum an die Untaten der rechtsextremen Terrorzelle erinnern. Es soll in Chemnitz errichtet werden, neben Zwickau eine der »Täterstädte«, in denen das Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe jahrelang unerkannt untertauchte. Daraus ergebe sich eine »Verantwortung des Freistaats Sachsen für die Aufarbeitung«, sagte dessen Justizministerin Katja Meier (Grüne). Dieser wolle man mit dem dem Dokumentationszentrum gerecht werden, dessen Pläne jetzt erstmals öffentlich vorgestellt wurden.

Endlich, sagen die Angehörigen der NSU-Opfer. Es brauche »einen Raum, in dem das Recht auf Wahrheit und Aufklärung gegeben ist«, sagte Gamze Kubaşık, die Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık. Ein solcher Raum, fügte sie in einer Videobotschaft für den Chemnitzer Termin hinzu, sei »mir und meiner Familie jahrelang verwehrt worden«. Tatsächlich verhallten Forderungen, die Aufarbeitung des rechten Terrors zu institutionalisieren, über lange Zeit ungehört. Erst 2019 bekannte sich die damals neue sächsische Koalition aus CDU, Grünen und SPD zur Errichtung eines Dokumentationszentrums, 2021 folgte das Regierungsbündnis im Bund. In dessen Koalitionsvertrag heißt es: »Wir unterstützen die Errichtung eines Erinnerungsortes sowie eines Dokumentationszentrums für die Opfer des NSU.« Zuvor hatten 190 Menschen, Vereine und Initiativen in einem offenen Brief appelliert, es brauche »einen Ort, an dem Erkenntnisse und Erfahrungen gesammelt, aufbereitet, vermittelt und diskutiert werden«.

Ein erster solcher Ort soll jetzt in Chemnitz entstehen: auf 1300 Quadratmetern Fläche in einem Gebäude unmittelbar im Stadtzentrum, das Teile eines DDR-Plattenbaus mit gesichtsloser 90er-Jahre-Büroarchitektur verbindet. Es passe damit zum Thema, weil es »gut an die Baseballschläger-Jahre erinnert«, wie ein Projektbeteiligter sagt. Wesentlicher Bestandteil des Dokumentationszentrums wird eine Wanderausstellung sein, die von der Chemnitzer Initiative »Offener Prozess« erarbeitet wurde und seit 2021 unter anderem in Jena, Leipzig, Kassel, Brüssel und im Jahr 2022 auch in Novi Sad zu sehen war. Die serbische Stadt war damals Kulturhauptstadt Europas. 2025 wird Chemnitz diesen Titel tragen. Das Bekenntnis zur Errichtung des NSU-Dokumentationszentrums war Teil der Bewerbung.

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In Sachsen hätte man sich gut vorstellen können, dass sich aus der zunächst als befristetes »Interim« geplanten Einrichtung auch der bundesweite Erinnerungs- und Dokumentationsort entwickelt. Das allerdings ist vom Tisch. In einer Machbarkeitsstudie, die von der Bundeszentrale für politische Bildung im Auftrag des Bundesinnenministeriums erarbeitet wurde und die seit Februar 2024 vorliegt, werden gravierende Bedenken von Angehörigen der Opfer geäußert. Sie beziehen sich auf die anhaltend starken rechtsextremen Netzwerke in Sachsen. Die dortigen Aktivitäten zur Aufarbeitung sehe man zwar als wichtig an. Aber wegen der »von ihnen empfundenen Bedrohungslage für migrantisch gelesene Menschen« sei Sachsen »kein Ort, den Betroffene und Opfer besuchen würden«.

Diese Bedenken, betonen die Autoren der Studie, sollten »bei der Standortwahl berücksichtigt werden«. Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale, betonte jetzt in Chemnitz, es sei »essenziell«, dass der künftige Gedenkort »Akzeptanz findet bei den Angehörigen der Opfer«. In der sächsischen Stadt ist man gewillt, dem Rechnung zu tragen. »Wenn ein zentraler Standort in Chemnitz nicht im Sinn der Angehörigen ist«, sagt Khaldun Al Saadi von der Initiative Offener Prozess, »dann ist er auch nicht in unserem Sinn.«

Al Saadi, der 1990 im damaligen Karl-Marx-Stadt geboren wurde, ist Projektleiter für das Chemnitzer Zentrum, dem künftig dennoch eine wichtige Rolle bei der NSU-Aufarbeitung zukommen wird. Die Machbarkeitsstudie schlägt dafür einen »dezentralen Verbund« vor. Zwar soll es einen zentralen Ort der Aufarbeitung und des Gedenkens geben. Über dessen Standort müsse jetzt »politisch diskutiert werden«, sagte Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, in Chemnitz. Die Entscheidung solle noch in diesem Jahr fallen. Bestehende Initiativen und Projekte sollen aber in den Verbund eingebunden und über ihn finanziert werden. Chemnitz werde »elementarer Bestandteil des bundesweiten Netzwerks werden«, betonte Seifert. Auch Krüger sagt, Chemnitz sei »Teil des Verbundes, und zwar ein besonders lebendiger«.

Bis dahin ist noch viel Arbeit zu erledigen. Während die Wanderausstellung weitere Stationen unter anderem in Dresden absolviert, wird das Gebäude in Chemnitz renoviert und umgebaut. Zudem wird das Konzept weiterentwickelt und umgesetzt. Geplant ist unter anderem ein Assembly genannter Versammlungsort, an dem sich Betroffene rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt vernetzen und selbst organisieren können, sagt Jörg Buschmann von der RAA Sachsen. Der Verein gehört neben der Initiative »Offener Prozess« und dem Verein ASA-FF zu den zivilgesellschaftlichen Initiativen, die das Chemnitzer Vorhaben umsetzen. Dieses soll auch ein Archiv beherbergen und Forschung ermöglichen; bereits geplant seien ein Symposium und die Vergabe von Stipendien, sagte Buschmann.

Eröffnet werden soll das Zentrum zwar noch nicht zum Beginn des Kulturhauptstadtjahres, aber möglichst »Ende des ersten, Anfang des zweiten Quartals 2024«, sagte Al Saadi. Finanziert ist es zunächst bis Ende 2025. Der Bund habe zwei Millionen Euro Fördergeld zugesagt, Sachsen werde in gleicher Höhe kofinanzieren, sagte Ministerin Meier. Weiteres müsse der künftige Landtag in den Etatverhandlungen klären. Sie hoffe, dass Sachsen eine »langfristige Perspektive sicherstellen« könne. Allerdings könne das »nicht die alleinige Aufgabe des Landes« sein.

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