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UN-Sonderberichterstatterin: »Schwelle zum Völkermord erreicht«

Francesca Albanese über Israels Vorgehen in Gaza, Deutschlands Verantwortung und die Vorwürfe gegen ihre Person

  • Interview: Hanno Hauenstein
  • Lesedauer: 9 Min.
Ihre scharfe Kritik an Israel sorgt bei den einen für Sympathie, bei den anderen für Ablehnung: UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese.
Ihre scharfe Kritik an Israel sorgt bei den einen für Sympathie, bei den anderen für Ablehnung: UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese.

In Ihrem Bericht »Anatomie eines Völkermordes« behaupten Sie, dass es Gründe für die Annahme gibt, dass Israel in Gaza einen Völkermord begeht. Können Sie das erklären?

Angesichts der Art und des Ausmaßes des israelischen Kriegs und der zerstörerischen Bedingungen, die er geschaffen hat, zeigt sich die Absicht, palästinensisches Leben physisch zu zerstören. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Schwelle zum Völkermord in mindestens drei Punkten, die in der Völkermordkonvention genannt werden, erreicht wurde: Die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe – hier der nationalen Gruppe der Palästinenser –, die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden sowie die Schaffung von Bedingungen, die auf die Vernichtung dieser Gruppe abzielen. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Handlungen nach entsprechenden Erklärungen hoher politischer oder militärischer Beamter mit Befehlsgewalt genehmigt und durchgeführt wurden.

Wie sind Sie zu diesen Schlussfolgerungen gelangt?

Seit dem 8. Oktober habe ich die Geschehnisse in Gaza anhand von Berichten von Soldaten und der Opfer untersucht und mit UN-Berichten abgeglichen. Die Fakten, auf die ich mich stütze, wurden sowohl mit UN- und israelischen, als auch mit palästinensischen Quellen überprüft.

Interview

Francesca Albanese ist eine italienische Rechtswissenschaftlerin mit Spezialisierung auf Internationales Recht und Menschenrechte. Seit 2022 ist sie UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete. Ende März veröffentlichte Albanese den Bericht »Anatomie eines Völkermords«, in dem sie Israel vorwirft, einen Genozid an den Palästinensern in Gaza zu begehen. Die israelische Delegation im UN-Sitz in Genf wies die Vorwürfe zurück und sagte, es handele sich bei dem Papier um einen Versuch, den israelischen Staat zu deligitimieren.

Welche Verpflichtungen ergeben sich in Ihren Augen für UN-Mitgliedstaaten?

Die Mitgliedstaaten sind zur Prävention verpflichtet. Es gibt auch Rechtsprechung, die besagt, dass die Mitgliedstaaten in dem Moment, wo bekannt wird, dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Völkermord begangen werden könnte, ein Verfahren einleiten müssen.

Gab es einen Wendepunkt, ab dem man hätte erkennen müssen, dass Israel, wie Sie sagen, Völkermord in Gaza begeht?

Der entscheidende Wendepunkt ist der 26. Januar, als der Internationale Gerichtshof (IGH), das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, die Plausibilität von Völkermord anerkannte und vorläufige Maßnahmen gemäß der Völkermordkonvention anordnete. Diese Maßnahmen wurden aber vonseiten Israels und einer Reihe weiterer Staaten komplett vernachlässigt.

Deutschland hat aufgrund seiner langen antisemitischen Geschichte und wegen des Holocaust eine besondere Beziehung zu Israel, hat diese sogar zur Staatsräson erklärt. Welche Verpflichtung hat Deutschland in Ihren Augen vor diesem Hintergrund?

Deutschland ist eins der Länder, die Israel vor und nach dem 7. Oktober politisch und materiell am stärksten unterstützt haben. Ich verstehe die historische deutsche Verantwortung und die moralische Verpflichtung nach dem Holocaust. Ich glaube, als europäische Gesellschaften haben wir den Holocaust noch lange nicht vollständig aufgearbeitet. Aber Völkermord beginnt nicht mit Massenmord. Es ist ein Prozess, der mit Entmenschlichung beginnt, die Massenmord normal, akzeptabel und rechtlich vertretbar macht. Hätte Deutschland das, was es dem jüdischen Volk angetan hat, verinnerlicht, würde »Nie wieder« bedeuten: »Nie wieder Völkermord«.

Verfolgen Sie die aktuellen Debatten in Deutschland über die Grenzen der Meinungsfreiheit mit Blick auf Israel-Palästina?

Durchaus, ja. Es scheint in Deutschland eine Art Paranoia zu geben, was kritische Auseinandersetzung betrifft mit dem, was Israel tut. Viele Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt sprechen sich dagegen aus, was in ihrem Namen geschieht. Aber Deutschland bringt selbst Israelis und jüdische Menschen zum Schweigen, die sich öffentlich gegen Israels Politik positionieren. Anstatt Israel mit den gleichen Maßstäben zu messen wie andere Länder, lässt man die Regierung ungestraft weiter machen.

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Kürzlich hat der UN-Menschenrechtsrat einen Stopp von Waffenlieferungen an Israel verlangt. Deutschland stimmte dagegen.

Deutschland verletzt damit völkerrechtliche Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention und hat während der Bombardierung Gazas sogar die Mittel für das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ausgesetzt. Israel hat gegen die vom IGH angeordneten vorläufigen Maßnahmen vollumfänglich verstoßen. All das ist eine grobe Verzerrung internationalen Rechts.

In Ihrem Bericht sprechen Sie von einer »andauernden Nakba« und einem ›siedlerkolonialen Prozess der Auslöschung‹ von Palästinensern. Eine Sprache, die man eher aus aktivistischen Kreisen kennt.

Ich verwende den Begriff Siedlerkolonialismus durchaus im juristischen Sinn. Siedlerkolonialismus kann völkerrechtlich nicht toleriert werden, auch wenn er nie per se verboten wurde. Abgesehen davon spreche ich eben nicht nur juristisch. Und ich würde Ihnen auch widersprechen, dass der Begriff Siedlerkolonialismus in erster Linie von Aktivisten benutzt wird. Es gibt hervorragende Forschung dazu, vor allem in der Anthropologie und Politikwissenschaft. Es ist unsere Geschichte als westliche Gesellschaften. Völkermord ist ein Kernbestandteil jener Geschichte.

Ein anderer Begriff, den Sie verwenden, ist der der »humanitären Camouflage«. Was meinen Sie damit?

Humanitäre Camouflage bedeutet, dass Israel seine Operationen in Gaza so tarnt, als würde es das humanitäre Völkerrecht einhalten. Denken Sie nur an das Ziel, die Hamas auszulöschen. Wo zieht man die Grenze? Jede Person, die mit der Hamas verbunden ist? Personen in der Regierung, in Krankenhäusern, im Schulsystem? Jeder wird zur Zielscheibe. Israel hat Bedingungen geschaffen, die das Leben in Gaza unmöglich machen. In dem Moment, wo man Krankenhäuser zerstört und kein Wasser, keine Nahrung und keine Medikamente zur Verfügung stellt, wird man Menschen unausweichlich körperlichen und geistigen Schaden zufügen. Es ist ein eindeutiger Fall von Völkermord.

Hier würden Kritiker einwenden: Um einen Genozid zu beweisen, muss man eine klare Absicht nachweisen. Können Sie Beispiele nennen, wo so eine Absicht deutlich wird? 

Hohe israelische Beamte haben die gesamte Bevölkerung in Gaza sowie die gesamte Infrastruktur in den letzten Monaten immer wieder als angreifbar, zerstörbar und tötbar erklärt, dafür gibt es zig Beispiele. In der Praxis ist die Ausweitung des Begriffs menschlicher Schutzschilde zentral. Das Anvisieren menschlicher Schutzschilde ist nach internationalem Recht verboten. Israel hat die Tötung Unbeteiligter damit gerechtfertigt, dass Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde einsetzt. Inzwischen ist fast alles in Gaza zu einem militärischen Ziel geworden. Der juristische Grundsatz, wonach zwischen Kombattanten und geschützten Zivilisten unterschieden werden muss, wurde nicht beachtet. Die Bombardierung des Flüchtlingslagers in Jabalia ist ein gutes Beispiel.

Was wäre denn die bestmögliche Konsequenz aus Ihrem Bericht?

Ich denke, die UN-Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen ergreifen. Ich möchte den Bericht auch dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorlegen. Es ist unglaublich, dass wir sechs Monate nach Beginn dieses blutigen Kriegs noch keine Haftbefehle gesehen haben. Gleichzeitig haben wir 300 Kolonien im besetzten Westjordanland, Verhaftungen von Kindern und über die Rechtmäßigkeit der Besatzung wird immer noch diskutiert? Das ist absurd.

Interessant, dass Sie Israels Siedlungen im Westjordanland als ›Kolonien‹ bezeichnen. Können Sie das erklären?

Im Französischen ist man ehrlicher, da nennt man es »colonie« – das ist, was sie sind. Wie der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said mal sagte: Die Bezeichnung »Siedlung« ist ein Weg, um das, was es ist, zu entschärfen. Sie sind illegal, egal wie man sie nennt.

Die USA und die EU haben kürzlich illegale Außenposten im Westjordanland mit Sanktionen belegt. Ein Schritt in die richtige Richtung?

Ich denke, es gibt keine andere Möglichkeit, Israel zu stoppen, als durch externen Druck. Worte der Verurteilung reichen nicht. Es ist an der Zeit, diplomatische, wirtschaftliche und politische Maßnahmen zu ergreifen. Der Versuch, die israelische Regierung vor solchen Maßnahmen zu schützen, schützt übrigens auch Israelis nicht.

In Ihrem Bericht ist oft davon die Rede, Israel müsse für seine Menschenrechtsverstößte zur Rechenschaft gezogen werden. In der Politik spricht man eher von Dingen wie Friedensschaffung und Stabilisierung. Passen diese Konzepte zusammen?

Ich glaube nicht, dass man in diesem Zusammenhang von Friedensschaffung sprechen kann, ohne das Wort Frieden zu beleidigen. Was damit meist gemeint ist, ist die Zwei-Staaten-Lösung. Wenn es Israel mit der Zwei-Staaten-Lösung ernst meinen würde, hätte es den Bau von Kolonien beziehungsweise Siedlungen längst eingestellt, stattdessen hat er sich in den letzten Jahrzehnten verdreifacht.

Wie sehen Sie die Rolle der internationalen Gemeinschaft?

Die derzeitige Situation liegt in unserer Verantwortung. Ja, das langfristige Ziel sollte Frieden für alle sein, die dort leben. Aber Frieden bedeutet, dass alle, die dort leben, die gleichen Rechte und gleichen Freiheiten genießen, ohne dass einer über den anderen dominiert. Es gab in der Vergangenheit Möglichkeiten für eine Zweistaatenlösung, die verspielt wurden. Die Palästinenser müssen am Ende des Tages für sich entscheiden, nicht die internationale Gemeinschaft in ihrem Namen. Wer sind wir, für sie zu entscheiden? Das ist sehr typisch für die siedler-koloniale, westliche Mentalität.

Sie sind seit Jahren eine bedeutende Stimme für die palästinensische Sache. Immer wieder sagen Ihre Kritiker, Sie agierten aus antisemitischen Motiven.

Der Grund, warum ich bei den europäischen Politikern Unbehagen hervorrufe, ist ganz einfach, dass ich ihnen einen Spiegel vorhalte. Ich zeige ihre Heuchelei. Die Angriffe gegen mich begannen lange, bevor ich mit der Verantwortung als UN-Kommissarin betraut wurde.

Es gibt ein altes Facebook-Zitat von Ihnen, in dem Sie von einer »jüdischen Lobby« sprechen – ein geläufiges antisemitisches Bild. Bedauern Sie diese Äußerungen?

Im Jahr 2014 habe ich einen offenen Brief auf Facebook veröffentlicht, wo ich von einer »jüdischen Lobby« sprach. Das war falsch. Das hätte ich so nicht formulieren sollen. Was ich meinte, war das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC), eine proisraelische Lobbygruppe in den USA, die über 100 000 Mitglieder zählt. Es gibt zahlreiche Jüdinnen und Juden, die mit den Positionen von AIPAC nicht übereinstimmen. Und übrigens auch jede Menge Christen, die AIPAC unterstützen.

Der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, hat sich kürzlich erneut auf diese ältere Äußerung berufen und erklärt, Sie seien die falsche Person für den Job.

Das war schon schockierend für mich. Vor allem der Teil, wo es heißt, ich hätte den Anschlag vom 7. Oktober gerechtfertigt. Das ist Verleumdung. Ich habe diese Anschläge nie gerechtfertigt. Tatsächlich habe ich gesagt, dass dies der Moment ist, um Solidarität zu zeigen und alle zusammenzubringen. Palästinenser und Israelis werden früher oder später mit ihrem eigenen Trauma fertig werden müssen.

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