Größer? Erfolgreicher? Politischer!

Deutsche Gewerkschaften verzeichneten 2023 ein leichtes Mitgliederplus. Das allein bedeutet noch keine Erneuerung.

  • Torsten Bewernitz
  • Lesedauer: 7 Min.
Gewerkschaften – Größer? Erfolgreicher? Politischer!

Zunächst die guten Nachrichten: Erstmals seit der Jahrtausendwende, genau genommen seit 2001, haben die deutschen Gewerkschaften ein Mitgliederplus zu verzeichnen, 0,4 Prozent im Jahr 2023. Auch in anderen Ländern scheint es bergauf zu gehen: In den USA etwa wird so viel gestreikt wie seit den 70er Jahren nicht mehr – was sich allerdings nicht in Mitgliederzuwächsen bei den US-Gewerkschaften niederschlägt.

Bescheidenes Mitgliederwachstum

Das Phänomen lässt sich vielerorten beobachten: Das Vertrauen in Gewerkschaften ist verglichen mit dem zu anderen Institutionen wie Medien, Parteien, Staat, teilweise selbst den Kirchen (mit Ausnahme der ehemaligen und aktuellen staatssozialistischen Gesellschaften) traditionell sehr hoch, in entsprechenden Mitgliederzahlen schlägt sich das jedoch nicht nieder. Das relative Mitgliederhoch der DGB-Gewerkschaften lässt sich denn auch reduzieren auf 193 000 neue Verdi-Mitglieder sowie Zuwächse bei GEW, NGG und der Gewerkschaft der Polizei (GdP).

Verdi profitiert von den Arbeitskämpfen 2023, als im Einzelhandel, bei der Post und im öffentlichen Dienst gestreikt wurde, sowie von den Organizing-Bemühungen der Initiativen für einen studentischen Tarifvertrag (TVStud) und der Krankenhaus-Kampagne in Nordrhein-Westfalen 2022. So sind 50 000 der neuen Verdi-Mitglieder unter 28 Jahre alt. Der GdP, die aufgrund des Beamtenstatus und der Struktur der Polizei kaum klassisch gewerkschaftlich tätig ist, kommen der Ausbau des Polizeiapparats und ihre Funktion als Berufsstandslobby zugute. Ihre autoritären und konservativen Verlautbarungen sowie ihre Relativierungen der Polizeigewalt dürften ebenfalls zum Wachstum der GdP beitragen. Diese Mitgliedergewinne kompensieren die Verluste der anderen Gewerkschaften.

Doch Mitgliederzahlen sind das eine. Weit wichtiger sind die Kerntätigkeiten der Gewerkschaften sowie ihre Erfolge, kurz die Tarifrunden, Streiks und deren unmittelbare Auswirkungen. Auch hier lässt sich zunächst konstatieren: Die Gewerkschaften haben angesichts historisch hoher Inflationswerte entsprechend hohe, teilweise zweistellige Lohnerhöhungsforderungen gestellt, und das nicht selten erfolgreich. 3000 Euro Inflationsprämie, eine Nettosumme ohne entsprechende Garantien für beständige Löhne und Sozial- und Gesundheitsabsicherung, sind tarifpolitisch zwar bedenklich, sorgen aber für Mitgliederzufriedenheit.

Relativiert wird der Erfolg der jüngsten Tarifverhandlungen auch durch den Umstand, dass nach 75 Jahren Tarifvertragsgesetz nur noch 51 Prozent der Arbeitenden tariflich absichtlich gesichert sind (in den ostdeutschen Bundesländern sind es sogar nur 45 Prozent). Hinzu kommen langwierige Konflikte oder solche, die langwierig zu werden drohen, wie im Einzelhandel, bei Amazon oder bei Tesla. Tesla könnte dabei das Amazon der IG Metall werden – ein langjähriger Konflikt ohne konkretes Ergebnis. Und durch Konflikte in neuen Industrien wie der Intel-Fabrik in Magdeburg könnten sich für die IG Metall noch mehr problematische Felder eröffnen.

Offensichtlich ist aber andererseits: Trotz Streik-Bashings in den Medien und immer wiederkehrender Forderungen nach Einschränkungen des Streikrechts von Seiten der konservativen Parteien – manchmal auch von Grünen wie Robert Habeck, der meinte, so viele Streiks könnten »wir« uns nicht leisten – wächst die Akzeptanz von und das Verständnis für Streiks. Das gilt auch für berufsständische Arbeitsniederlegungen wie die der GDL oder für Streiks, deren Legalität angezweifelt wird, wie die der Fahrer*innen des Lieferdienstes Gorillas 2021 oder der Lkw-Fahrer an der Raststätte Gräfenhausen im vergangenen Frühjahr. Nichtsdestotrotz: Selbst gestreikt hat in Deutschland nur eine verschwindend geringe Minderheit der Arbeitnehmer*innen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Interne Differenzen

Die Entwicklung der Mitgliederzahlen und des Tarif- und Streikgeschehens zeigt eine Tendenz auf, wie wir sie auch aus anderen Staaten kennen: In Griechenland oder Frankreich etwa, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad niedriger ist als in Deutschland, besitzen Gewerkschaften nur noch im öffentlichen Dienst und, deutlich geringer, im Dienstleistungssektor Handlungsmacht. »Generalstreiks« wie am 17. März in Griechenland sind in diesen Ländern Minderheitenveranstaltungen eines Milieus, das wir traditionell (und möglicherweise falsch) nur selten als »Arbeiter*innen« verstehen.

Es ist nicht alles schlecht in der geschrumpften Arbeiterbewegung. Einer großen Erneuerung stehen aber nicht nur Staat und Kapital, sondern auch interne Differenzen im Weg: Im organisatorischen Sinne ist das vor allem die Differenz zwischen der alten, sozialpartnerschaftlichen Verhandlungsgewerkschaft und dem Modell der konfliktorientierten Organizing-Gewerkschaft. Auch das ist nicht neu: Den entsprechenden »Doppelcharakter« der Gewerkschaften hatten gewerkschaftsnahe Intellektuelle wie Rainer Zoll und Eberhard Schmidt schon in den 70er Jahren konstatiert. Dass die größten Gewerkschaften Deutschlands ihr Engagement in Sachen Organizing allerdings deutlich reduzieren – Verdi vertraut seit einigen Jahren fast nur noch auf externe Organizing-Firmen und die IG Metall hat jüngst die Abteilung Organizing beim bundesweiten Vorstand geschlossen –, lässt wenig Hoffnung für eine neue Basisorientierung aufkeimen.

Im politischen Sinne leidet die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland darüber hinaus unter zahlreichen Konflikten: Bis weit in die Gewerkschaftslinke hinein tun sich politische Gräben auf, begonnen mit der Frage nach der Beurteilung der Corona-Maßnahmen über die Beurteilung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und, damit verbunden, der Scholz’schen »Zeitenwende« sowie westlicher und insbesondere deutscher Aufrüstungspolitik (oder »Ausrüstungspolitik«, wie es der zweite Vorsitzende der IGM Jürgen Kerner ausgedrückt hat) bis hin zur – besonders sensiblen – Beurteilung der israelisch-palästinensischen Konfrontation.

Sympathien für die AfD

Vor allem wird, was inhaltlich damit verbunden, aber keineswegs identisch ist, die autoritäre und rechtspopulistische Entwicklung in der Gesellschaft zu einem internen Problem der Gewerkschaften: Von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften wird die AfD überdurchschnittlich häufig gewählt. Bei der Kommunalwahl in Bayern wählten 18 Prozent der Gewerkschafter*innen (insgesamt 14,6) die AfD, bei den Wahlen in Hessen waren es 21 Prozent (insgesamt: 18,4). Längst sind die Zeiten vorbei, in denen man sich lediglich gegen rechtsextreme Betriebsratslisten des »Zentrums« in der Automobilindustrie zur Wehr setzen musste. Die Frage lautet mittlerweile vielmehr, inwieweit ein entsprechendes Denken – und vermehrt: Reden und Handeln – auch in der Basis der Gewerkschaften Usus wird. Die französischen Soziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux haben bereits vor 20 Jahren am Beispiel Peugeot in Nordfrankreich eine seltsame Ambivalenz analysiert: Die Arbeiter*innen wählten bei Betriebsratswahlen kommunistisch, in politischen Wahlen aber stimmten sie für den rechtsextremen Front National (heute Rassemblement National). Die politische Stimmung der Mitgliederbasis tangiert dabei auch Kernbereiche gewerkschaftlicher Arbeit, etwa die Kampagne #wirfahrenzusammen von Verdi mit der Klimabewegung Fridays for Future zur Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs oder auch die Frage, wie sich die IG Metall zu den Protesten gegen die Fabrikerweiterung von Tesla in Grünheide verhält.

Seine parteipolitische Neutralität droht dem DGB dabei auf die Füße zu fallen: Einerseits ist sie theoretisch gesehen völlig plausibel: Arbeiter*innen können sich gegen die stärkere Macht der Unternehmen in einem asymmetrischen Konflikt nur gemeinsam zur Wehr setzen, das heißt, sie müssen politische Differenzen beiseite lassen. Andererseits ist die soziale Funktion von Gewerkschaften ganz prinzipiell gefährdet, wenn sozialpolitische Grundpositionen – die zu Migration und Geschlechterverhältnissen nicht minder bedeutend sind als zum Kapitalverhältnis – von der Basis in Frage gestellt werden. Eine klare, auch praktische Positionierung gegen rechtsautoritäre Tendenzen ist dabei eben keine politische Parteinahme, sondern grundsätzliches Eigeninteresse der Gewerkschaften.

Das zentrale Motto der Gewerkschaften zum 1. Mai 2024 ist deshalb, sagen wir mal, mager. Die Losung »Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit« laviert sich nicht nur um sämtliche gesellschaftlichen, sondern auch um sämtliche gewerkschaftlichen Konflikte herum: Denn mehr Lohn und mehr Freizeit, so richtig wie immer, ist einfach nur die Legitimationsgrundlage aller Gewerkschaften seit Bestehen der Arbeiterbewegung. »Mehr Sicherheit« mag sozioökonomisch gemeint sein – bedient aber auch einen letztlich autoritären Diskurs: noch mehr Mitglieder für die GdP.

Bislang konnte man damit kalkulieren, dass sich rechte Positionierungen in den Gewerkschaften vor allem bei passiven Mitgliedern finden, für die der DGB eine Art Arbeits-ADAC ist. Streiks, die man etwa gemeinsam mit migrantischen Kolleg*innen führt, und das daraus resultierende gewerkschaftliche Engagement sollten gegen rechtes Denken immunisieren oder dieses ad absurdum führen. Immer mehr Indizien weisen aber darauf hin, dass dieser Zusammenhang zwischen gewerkschaftlicher Praxis und ideologischem Grundprinzip kein Automatismus ist. Es geht kein Weg daran vorbei: Auch wenn es eigentlich der Grundidee einer parteiübergreifenden »Partei der Arbeit« (Émile Pouget) widerspricht, müssen die Gewerkschaften notwendig politischer – oder politisch eindeutiger – werden.

Torsten Bewernitz ist Redakteur bei »Express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit« und lehrt im Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt. Für Die Linke kandidiert er am 9. Juni für den Stadtrat von Mannheim.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.