Sexualisierte Gewalt: Ob Lisa, Nadia, Rahel oder Serina …

Christina Clemm vertritt nicht nur anwaltlich Opfer von sexualisierter Gewalt, sie kämpft vehement gegen Frauenhass

Harvey Weinstein, Dieter Wedel, Gérard Depardieu und andere – es scheint, als ob die Filmbranche einen besonders günstigen Nährboden für sexuelle Gewalt gegen Frauen bietet. Ein Trugschluss, durch die Allmacht der Schlagzeilen genährt. Sexuelle respektive sexualisierte Gewalt kommt in allen gesellschaftlichen Bereichen und sozialen Schichten vor, unabhängig von kulturellem oder religiösem Hintergrund. Bei der Arbeit und zu Hause, in öffentlichen und nicht öffentlichen Räumen. Doch erst die Übergriffe und Vergewaltigungen durch Prominente, die von unerträglicher Frauenverachtung und aggressivem Machismus zeugen, haben für weltweite Empörung gesorgt, einen viel zu lange verborgenen, verschwiegenen, verdrängten und verleugneten gesellschaftlichen Missstand in die öffentliche Debatte gebracht und die #MeeToo-Bewegung ins Leben gerufen – die jetzt, mit der skandalösen Aufhebung eines Urteils gegen US-Filmmogul Weinstein einen herben Rückschlag erfuhr.

Die Anwältin Christina Clemm aus Berlin-Kreuzberg hat in ihrem bisherigen fast 30-jährigen Berufsleben Hunderte Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt vertreten. Ihrem Buch »Akteneinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt« (2020) ließ sie ein zweites folgen: »Gegen Frauenhass«. Wobei sie »Frauen« nicht nur im zweigeschlechtlichen Sinne versteht, sondern, wie sie eingangs klarstellt, »alle weiblich gelesenen Personen« einbezieht, auch trans Frauen, inter und sich selbst als non-binär verstehende Personen sowie trans Männer, die gleichfalls unter patriarchalem Hass leiden. Sie bietet erschütternde Beispiele aus ihrer aktivistischen und anwaltlichen Tätigkeit. Um die Schweigepflicht zu wahren und ihre Mandant*innen zu schützen, änderte sie freilich Namen und Orte, was die schreckliche Wahrheit der von ihr an den Pranger gestellten Schandtaten nicht mindert.

Christina Clemm, deren Buch für den diesjährigen Leipziger Sachbuchpreis nominiert war, geht es nicht nur um sexuelle, sondern auch um sexualisierte Gewalt, bei der nicht der Trieb, die Befriedigung im Vordergrund steht, sondern »eine besonders erniedrigende Form der Machtausübung und Diskriminierung« durch den Mann. »Sexualisierte Gewalt beginnt nicht bei brutalen Vergewaltigungen. Sie beginnt bei alltäglichen verbalen Angriffen. Sie wird durch Blicke, Handzeichen, Sprüche und häufig digital verübt«, schließt unter dem Begriff »Catcalling« summierte sexuell konnotierte Verhaltensweisen ein, unterschiedlichste Arten der sexuellen Belästigung auch ohne Körperkontakt wie anzügliche Bemerkungen oder obszöne Rufe.

Man spürt in jeder Zeile, in jeder hier geschilderten tragischen Geschichte tiefste Enttäuschung und heiligen, gerechten Zorn der Autorin. Der gefährlichste Ort für eine Frau ist immer noch ihr eigenes Zuhause, die bedrohlichste Person vielfach der eigene Partner, weiß die Anwältin und erzählt von Lisa, studierte Soziologin und Philosophin, die während ihrer Schwangerschaft von ihrem Mann in einem Wutanfall derart heftig in den Bauch geboxt wird, dass sie in die Notaufnahme muss.

Nach der Geburt des Kindes, dem bald ein zweites folgt, wird es immer schlimmer, obwohl Lisa sich dem Willen ihres Mannes beugt, auf Promotion und Lehrstuhl verzichtete. Sie ahnt, eines Tages wird er sie töten. Und stirbt schließlich an sieben Messerstichen in den Rücken. Ihrem Mörder-Mann wird wegen alkoholisiertem Zustand verminderte Schuldfähigkeit zugesprochen, obendrein kommt er wegen »guter Führung« vorzeitig aus dem Gefängnis. Ein besonders drastisches Beispiel, aber keine Ausnahme. Es bezeugt zudem, dass nicht selten Männer, die sich ihrer Frau intellektuell unterlegen fühlen, ihr Selbstwertgefühl mit Gewalt auszugleichen versuchen.

Oder Nadia, politische Aktivistin und Feministin, die eine eigene kleine Firma unterhält und fünf Sprachen spricht: Ihr Partner kommt nicht klar damit, dass sie »ihren eigenen Kopf« hat. Mehrfach bittet Nadias Mutter die Polizei um Hilfe. »Man hörte sie an und legte das Protokoll ihrer Anzeige auf den Stapel der anderen unbearbeiteten Anzeigen.« Untätigkeit oder gar Unwillen führt dazu, dass Nadia auf einer Intensivstation landet.

Das Versagen der Exekutive bei Gewalt gegen Frauen ist himmelschreiend. Im Verfahren von Rahel, die von ihrem Ehemann ins Koma geprügelt wird, einen Schädel- und einen Armbruch erlitt, heißt es in der Urteilsbegründung, das Strafmaß sei zu mildern, weil der Angeklagte seinen Sohn sehr liebe und ihm eine lange Trennung nicht zuzumuten sei. Serina, die seit Beginn ihrer Ehe verbaler, körperlicher und sexualisierter Gewalt ausgesetzt war, gelingt es zwar, mit ihren zwei Kindern in ein Frauenhaus zu fliehen und Strafanzeige zu stellen, doch im Jugendamt glaubt man eher dem Ehemann, der sich als liebevoller Familienmensch inszeniert.

»Ich habe viele fadenscheinige Erklärungen von Tätern gehört, habe den Erläuterungen ihrer angeblichen Verzweiflung, ihren Rechtfertigungen, ihren Versuchen, den Frauen die Schuld zuzuschieben, schon zu viel Aufmerksamkeit geschenkt«, schreibt Christina Clemm. »Was mich interessiert, ist nicht, warum sie es tun, sondern vielmehr, warum sie es nicht lassen. Und weshalb sie nicht daran gehindert werden.«

Sie fragt aber auch: Wehren sich Frauen zu wenig? Und warum? Scham, Ekel, Schmerz, Verzweiflung, Verunsicherung und Verwirrung, Angst und Panik lähmen die Betroffenen. Und die bittere Erfahrung, dass sie nicht ernst genommen werden, ihr Leid nicht anerkannt wird, sie niemand ernsthaft schützt. Frauen müssen sich rechtfertigen. Haben sie der ihnen zugefügten Gewalt nicht gar Vorschub geleistet, sie provoziert, ob durch ihr Äußeres oder Widerworte? Behörden glauben den Opfern vielfach nicht oder wollen ihnen nicht glauben. Und das betrifft nicht nur die unteren Instanzen. BKA und Innenministerium sehen vielmehr Graffiti als eine Straftat an, die – so in Berlin-Friedrichshain – bekunden: »Feminism is for everyone« oder: »Das Patriarchat zerschlagen«.

»Die Ressentiments sind systemisch und systematisch, der Hass ist strukturell, zielgerichtet und dem patriarchalen System nicht nur innewohnend, sondern für dieses stabilisierend«, betont Christina Clemm. Man könne auch von patriarchalem Hass sprechen. »Er kommt nicht aus dem Nichts: Frauenverachtung wird anerzogen, schon früh erprobt.«

Frauenhass ist auch in Deutschland allgegenwärtig und weitverbreitet. »Deutschland hängt im Kampf gegen geschlechtsbezogene Gewalt hinterher«, beklagt Christina Clemm. Nach Untersuchungen des europäischen Instituts für Gleichstellung belegt die Bundesrepublik bei Femiziden in Europa den achten Platz. Dabei handelt es sich nicht nur um sogenannte Ehrenmorde islamistischen Wahns – zu den Tätern gehören vielfach Rechtsextreme: »Der Hass auf Frauen und alle, die es wagen, die binäre Geschlechterordnung zu durchqueren, ist neben Rassismus und Antisemitismus eine tragende Säule rechtsextremer Ideologien.« Die Attentäter von Oslo (2011), Halle (2019), Hanau (2020), Christchurch (2020), Colorado Springs (2022) hingen alle antifeministischen Ideologien an, belegt die Autorin.

Die Frauenmorde von Ciudad Juárez in Mexiko in den 90ern haben zu einer klaren Definition der extremsten Form geschlechtsbezogener Gewalt geführt: der Tötung von Frauen und Mädchen, nur weil sie Frauen und Mädchen sind. Das deutsche Strafrecht kennt Femizide als eigenen Straftatbestand nicht. Und tödlich endende Gewalt gegen Frauen gilt eher als Versehen denn als Vorsatz. Hanebüchen! Die Anwältin Christina Clemm ist verständlicherweise zurückhaltend hinsichtlich der Forderung nach einem neuen, speziellen Mordparagrafen, plädiert aber vehement für eine grundsätzliche Reform der Tötungsdelikte. Jene, die auf Frauenhass oder der Geringschätzung von Frauen beruhen, sollten als besonders verwerflich angesehen und entsprechend geahndet werden, ebenso wie jene aus rassistischen, antisemitischen oder queerfeindlichen Motiven.

In El Salvador gibt es seit 2010 ein »Sondergesetz für ein gewaltfreies Leben der Frauen«. Warum in Deutschland nicht? 2018 wurde die Konvention »zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, die sogenannte Istanbul-Konvention, beschlossen, die von 54 Staaten ratifiziert wurde, darunter die Türkei, die jedoch drei Jahre darauf auf Geheiß von Recep Tayyip Erdoğan wieder austrat. Unterzeichnerstaat Deutschland gehöre zu den »schleppend umsetzenden Staaten«, beanstandet die Autorin. Lange habe die deutsche Rechtsprechung die Istanbuler Konvention gar schlichtweg ignoriert. Welch ein Zynismus: Wenn es um Abschiebung von Migrantinnen geht, berufen sich Behörden hierzulande sehr wohl auf diese. Staaten, die zu den Unterzeichnern gehören, gelten als sicher, ungeachtet der realen gesellschaftlichen, frauenverachtenden Situation vor Ort.

Was ist zu tun? »Gegen Sexismus und Frauenhass muss auf allen Ebenen, so früh wie möglich und mit vielen Ressourcen, Fantasie und Mut gekämpft werden. Dabei reicht es nicht, sich den Unterdrückungsmechanismen entgegenzustellen, Menschen müssen befähigt werden, Geschlechtergerechtigkeit zu verstehen und dafür einzutreten. Dies fängt bei der Erziehung, der Bildung an.« Christina Clemm begnügt sich nicht mit Zustandsbeschreibung und Analyse, sie bietet auch konkrete Vorschläge zum Schutz von Frauen und non-binären Personen, darunter selbstverständliche und leicht zu realisierende wie die Anerkennung von Leid und Schmerz sowie Respekt gegenüber den Opfern, ausreichend Beratungsstellen, Frauenhäuser und Schutzwohnungen sowie traumasensibilisierte ärztliche Versorgung, kostenloser Zugang zu Rechtsberatung und Rechtsvertretung, zügige und diskriminierungsfreie Ermittlungs- und Strafverfahren inklusive Pflichtfortbildungen für Richter*innen, Ermittlungsbeamt*innen, Staatsanwält*innen zum Thema geschlechtsbezogene Gewalt und Rassismus.

Es mag für manchen vielleicht etwas pathetisch klingen, wenn Christiane Clemm ihre Leser und Leserinnen aufruft: »Smash the Patriarchy – Solidarität ist unsere Waffe!« Sie hat recht.

Christina Clemm: Gegen Frauenhass. Hanser, 256 S., geb., 22 €.

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