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Reform der Pflegeversicherung: Alle für alle
Eine Bürgerversicherung in der Pflege, die alle pflegebedingten Kosten übernimmt, ist nicht utopisch, sondern machbar
Es war ein CDU-Politiker, der vor ziemlich genau 30 Jahren den Ausbau des Sozialstaats in Deutschland verkündete. Nach langen Debatten hatte der Vermittlungsausschuss am 27. April 1994 den Weg frei gemacht für die Einführung der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) als Pflichtversicherung. Für Bundesarbeitsminister Norbert Blüm war es »die beste Nachricht seit 20 Jahren«. Mit Wirkung zum 1. Januar 1995 wurde dem deutschen Sozialversicherungssystem eine fünfte Säule hinzugefügt.
Damals regierten die Unionsparteien zusammen mit der FDP, mit Helmut Kohl an der Spitze. Und vielleicht würde es sie überraschen, wenn sie die Bundestagsdrucksache 12/5262 heute nochmal lesen würden. Pflege – dafür war bis dahin allein der Einzelne und dessen Familie verantwortlich. In ihrem »Entwurf für ein Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit«, das die Regierungsparteien im Sommer 1993 in den Bundestag eingebracht hatten, formulierten sie: »Die Pflegeversicherung soll dazu beitragen, die aus der Pflegebedürftigkeit entstehenden Belastungen zu mildern; sie soll bewirken, daß die überwiegende Zahl der Pflegebedürftigen nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen ist (sic!); wer sein Leben lang gearbeitet und eine durchschnittliche Rente erworben hat, soll wegen der Kosten der Pflegebedürftigkeit nicht zum Sozialamt gehen müssen.« Die Versicherung sollte in der Regel die pflegebedingten Aufwendungen übernehmen.
80 Prozent der Pflegebedürftigen, die in Heimen lebten, waren zu dieser Zeit auf Sozialhilfe angewiesen. Mit der neuen beitragsfinanzierten Versicherung sollten auch die Kommunen von Sozialhilfeausgaben entlastet werden und die eingesparten Mittel in die Pflegeinfrastruktur investieren.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
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Die CDU, die heute genauso wie die FDP nur mehr private Vorsorge verordnen will, setzte damals die Versicherung als umlagefinanzierte Pflichtversicherung gegen ihren Koalitionspartner durch. Die FDP konnte sich immerhin rühmen, zum Ausgleich für die neue Belastung der Arbeitgeber durch Lohnnebenkosten einen Feiertag abgeschafft zu haben. Dran glauben musste der Buß- und Bettag (außer in Sachsen, dort muss man dafür etwas höhere Beiträge zahlen). Die SPD stritt damals über den Bundesrat für eine solidarische Einbeziehung aller in die Finanzierung, PDS/Linke Liste und Bündnis 90/Die Grünen hatten ein bedarfsgerechtes, steuerfinanziertes Pflegegesetz vorgeschlagen.
Der Beschluss 1994 stärkte den solidarischen Gedanken des Sozialversicherungssystems, dass individuelle Lebensrisiken gesellschaftlich aufgefangen werden sollen. Zugleich schreibt dieses Gesetz alle Schwächen fort, die das deutsche System von jeher prägen und das es in keinem anderen OECD-Land gibt: dass sich Besserverdienende dem Solidarmodell entziehen können.
Das Problem
»Wir wissen seit mindestens zehn Jahren, dass wir auf einen Notstand zulaufen«, sagt Claus Bölicke, Pflegeexperte der Awo, dem »nd«. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird von derzeit fünf Millionen in den kommenden Jahren noch einmal um 40 Prozent ansteigen. Doch bislang hat die Politik weder für eine auskömmliche Finanzierung der Pflege gesorgt, noch ist es ihr gelungen, die Pflegeberufe deutlich attraktiver zu machen. Zehntausende Menschen fehlen in der professionellen Betreuung, vor Kurzem wieder konnte jeder eine Vorstellung von den Dramen bekommen, die sich in manchen Pflegeeinrichtungen abspielen: Da wusste sich eine Pflegerin in Berlin nicht anders zu helfen, als den Notruf zu wählen, weil das nötige Pflegepersonal für die Nacht fehlte.
Auf der anderen Seite steigen Jahr für Jahr die Summen, die Pflegebedürftige aus eigener Tasche zuzahlen müssen. Denn auch jede Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte oder beim Angebot der Einrichtungen landet bislang finanziell am Ende bei ihnen. Pflegebedürftigkeit wird mehr und mehr ein Armutsrisiko, kritisieren Sozialverbände und Gewerkschaften.
Nach Angaben des Paritätischen Gesamtverbands müssen derzeit Pflegebedürftige im ersten Jahr ihres Aufenthaltes in einem Pflegeheim durchschnittlich rund 2700 Euro pro Monat selbst aufbringen. Davon entfallen allein auf die pflegerische Versorgung rund 1250 Euro, der Rest setzt sich zusammen aus Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Investitionskosten, etwa für Rücklagen der Träger oder Instandhaltung der Heime.
In manchen Einrichtungen und Regionen betrage der Eigenanteil schon jetzt 3500 Euro, sagt Bölicke, der die Abteilung Gesundheit, Alter und Behinderung bei der Awo leitet. »Das übersteigt die durchschnittliche Rente um Längen.« 40 bis 50 Prozent der Menschen, die in Einrichtungen der Awo leben, sind pflegebedingt auf Sozialhilfe angewiesen. Und bevor Sozialhilfe überhaupt ins Spiel kommt, müssen erstmal Rücklagen aufgebraucht werden, das Haus verkauft oder eine Hypothek aufgenommen werden, was in der Regel auch die Angehörigen trifft. Der Trend ist ungebrochen – obwohl es seit dem Januar nochmal höhere Zuschläge gibt, die den Eigenanteil begrenzen sollen. Die Wirkung verpufft. Keine einzige Maßnahme der vergangenen Jahre hat das Pflegesystem – die Pflegebedürftigen und ihre Familien, die Beschäftigten sowie die Einrichtungen – auf sichere Füße gestellt.
Ob nun als trockene Statistik oder bedrückende Reportage aus dem Heimalltag – beschrieben ist die Pflegetragödie hinlänglich. »Wir haben kein Erkenntnisdefizit«, betont denn auch Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, »sondern wir haben ein Umsetzungsproblem.« In der Tat: Gute Konzepte, wie sich die Pflege für alle Beteiligten verbessern lässt, liegen seit Jahren auf dem Tisch. Das weitestgehende hat auch den längsten Namen: Pflegebürgervollversicherung.
Die Lösung
Der Gedanke ist einfach: Die Pflege- als Vollversicherung soll sämliche Kosten tragen, die für gute Pflege nötig sind. Das lässt sich finanzieren, indem soziale und private Pflegeversicherung zusammengelegt werden zu einer einheitlichen Pflegebürgerversicherung, in die alle einbezogen werden – auch Beamte, Abgeordnete, Selbstständige und Besserverdienende – und für die alle Einkommensarten, also auch Mieteinkünfte und Dividenden, angerechnet werden. »Dann wäre das Finanzierungsproblem vielleicht nicht ganz gelöst, aber auf jeden Fall handhabbar«, sagt Bölicke. 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind in der gesetzlichen Versicherung, der Rest in der privaten.
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Dieser Systemwechsel müsste durch weitere Elemente flankiert werden, erläutert der Pflegeexperte: Denn aus den Beiträgen der Versicherten werden bislang komplett sachfremde Kosten beglichen – Rentenbeiträge für pflegende Angehörige oder auch die Ausbildung der Pflegekräfte. »Das muss aus Steuermitteln bezahlt werden. So sieht es im Übrigen auch der Koalitionsvertrag vor.« Zudem sollen die Investitionskosten nicht länger in den Eigenanteil der Pflegebedürftigen umgelegt werden. »Das muss von den Ländern getragen werden, die dazu eigentlich schon jetzt verpflichtet sind.« Blieben nur noch Unterkunft und Verpflegung, die von den Einzelnen zu tragen wären.
»Zurück zu den Wurzeln«, sagt Bölicke. Die Pflegeversicherung war ursprünglich genau mit dem Anspruch gestartet, die pflegebedingten Kosten weitgehend zu tragen. Als letzter Baustein wären danach vielleicht immer noch Beitragserhöhungen von 0,1 oder 0,2 Prozent nötig, aber das sei weit weniger, als ohne diese Systemveränderung zu erwarten ist. Diese Beiträge werden paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gezahlt. »Für die Masse der Bürger ist das deutlich besser, als wenn jeder für sich zusätzlich privat vorsorgen müsste.« Laut Umfragen wäre die Mehrheit der Bürger dazu auch bereit, wenn sie dafür im Alter gut versorgt werden.
Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang hat in den vergangenen Jahren mehrfach die Finanzierbarkeit einer Bürgervollversicherung in der Pflege durchgerechnet, 2012 für die Awo, 2019 für die Böckler-Stiftung, 2021 für die Linksfraktion. Die absoluten Zahlen zeigten jeweils ein ähnliches Bild. Weswegen Rothgang vermutet, dass er relativ gesehen auch heute »nicht zu dramatisch anderen Ergebnissen kommen wird«, wie er dem »nd« erläutert.
Nämlich: In einem Vollversicherungsmodell müssten acht bis zehn Milliarden Euro mehr im Jahr ausgegeben werden. Mit einem Pflegebürgervollversicherungsmodell ließen sich Mehrausgaben und Beitragssatzsteigerung nahezu kostenneutral umsetzen. Denn was die vollständige Übernahme der Pflegekosten teurer macht, wird durch die verbreiterte Finanzierungsbasis wieder reingeholt.
»Bei den Pflegebedürftigen ist das Ende der Fahnenstange erreicht«, sagt Rothgang. »Mit einer Pflegebürgerversicherung als Vollversicherung werden nicht nur die derzeitigen Eigenanteile bei der Pflege abgebaut. Vielmehr werden die ansonsten unmittelbar drohenden Anstiege der Eigenanteile verhindert, und zwar langfristig, ohne dass der Beitragssatz für das Gros der Versicherten und ihre Arbeitgeber nennenswert höher wäre«, erklärt der Wissenschaftler von der Universität Bremen. Auch auf lange Sicht bliebe der Entlastungseffekt der Bürgerversicherung erhalten, wie eine Projektion bis 2060 ergeben hat. Insbesondere bei Privatversicherten mit größeren Einkommen fiele der nötige Beitragsaufschlag für die erweiterten Leistungen aber höher aus.
Die Awo hat die Umsetzbarkeit einer Bürgerversicherung vor einigen Jahren untersuchen lassen. »Das Ergebnis war: Sie ist in der Pflege relativ einfach, weil wir einen identischen Leistungskatalog im privaten und im gesetzlichen System haben«, erklärt der Pflegeexperte Claus Bölicke. So dürfen Prämien in der privaten Pflegeversicherung – abweichend von allen anderen privaten Versicherungszweigen – nicht nach Gesundheitsrisiken oder Geschlecht kalkuliert werden. Denkbar sei ein Stufenmodell, sagt Bölicke, in dem man den Privatversicherten einen Wechsel anbieten kann. »Wer drin bleiben will, kann das, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt darf niemand mehr neu hinein.«
Nicht nur die Finanzierungsprobleme, sondern auch Gerechtigkeitserwägungen sprechen für die Reform. Für Claus Bölicke ist die Idee einer solidarischen Gesellschaft, dass die, die mehr leisten können, für die eintreten, die nicht so gut für sich vorsorgen können. Die einen zahlen höhere Beiträge, aber alle bekommen dieselbe Versorgung. »Die hohen Eigenanteile, die Tatsache, dass Menschen ihr Vermögen aufbrauchen müssen, wenn sie pflegebedürftig werden – all das widerspricht der Idee von Sozialversicherung«, sagt Bölicke. »Wer ins Krankenhaus geht, muss ja auch nicht erstmal sein Konto plündern.«
Zudem gibt es einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Pflegerisiko. Menschen mit geringen Einkommen sterben früher und werden häufiger und früher pflegebedürftig als Gutverdienende. Das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) herausgefunden. Vom höchsten Pflegerisiko sind demnach Arbeiter und Arbeiterinnen betroffen. Hingegen ist das Risiko bei verbeamteten Personen am geringsten.
Die private Pflegeversicherung versichert nun aber gerade Menschen mit höherem Einkommen und niedrigerem Pflegebedarf und kann dadurch Rücklagen bilden und Gewinne ausschütten, die dem anderen Topf fehlen. Die soziale Pflegeversicherung hat höhere Kosten, und die hohen Eigenanteile für die Pflege treffen überproportional Menschen mit geringen Einkommen oder einer hohen beruflichen Belastung, die ein höheres Pflegerisiko haben, und ihre ohnehin schon geringen Einkommen werden dadurch noch weiter reduziert.
Die Zusammenführung aller Menschen in einer einheitlichen Versicherung wäre daher weniger ein Bruch mit dem bisherigen System als die Einlösung des Versprechens, das umlagefinanzierten Sozialversicherungen innewohnt, individuelle Lebensrisiken gesellschaftlich aufzufangen. Das Umlagemodell wird geschwächt, wenn finanziell leistungsfähige und potenziell weniger pflegebedürftige Menschen in einem Sondersystem versichert werden. Insofern würde der Ausbau in eine solidarische Bürgerversicherung insgesamt das Vertrauen in das Sozialversicherungsmodell stärken.
Die Umsetzungschancen
»Das ist eine Notsituation, auf die wir zulaufen. Und da sind in den letzten zehn Jahren sehr, sehr wichtige Gesetze verpasst worden«, räumte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erst kürzlich bei der Eröffnung einer Altenpflegemesse ein. Es könne nicht alles über Beitragssätze finanziert werden. Stattdessen geht Lauterbach davon aus, »dass wir langfristig ohne eine bessere steuerfinanzierte Absicherung der Pflegeversicherung nicht hinkommen werden«. Eigentlich befürwortet die SPD die Bürgerversicherung, genauso wie Grüne und Linke. Eine Regierungskommission unter Leitung des Gesundheitsministeriums soll bis Ende Mai Empfehlungen für eine dauerhafte Finanzierung der Pflegeversicherung vorlegen. Dass daraus grundlegende Reformen erwachsen, glaubt allerdings kaum jemand. Dafür sorgt schon die FDP in der Koalition, die wie die Union zu mehr privater Vorsorge aufruft.
Ein Ausbau der Steuerfinanzierung hätte Vorteile gegenüber dem Status quo, weil sie eine bedarfsgerechte Versorgung absichern könnte. Viele warnen allerdings davor. Sie befürchten »Pflege nach Kassenlage«. Die Finanzierung von Ausgaben für die Pflegeversicherung müsste kontinuierlich mit anderen Ausgabentiteln im Bundeshaushalt konkurrieren – und man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass sie in der aktuellen Regierungskonstellation nicht die oberste Priorität genießen würde.
Wohlfahrtsverbände hoffen, dass Pflege doch einmal ein wahlentscheidendes Thema wird. Der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Gewerkschaft Verdi haben ein Bündnis initiiert, das sich für eine Pflegeversicherung einsetzt, die alle pflegebedingten Kosten übernimmt – unabhängig davon, ob es sich um stationäre oder ambulante Pflege handelt. Mit dabei sind u. a. der DGB, Pflegeberufsverbände, kommunale Senioren- und Behinderteneinrichtungen sowie weitere Sozialverbände. Sie haben Postkarten vorbereitet mit der Botschaft »Pflege darf nicht arm machen – Vollversicherung in der Pflege, jetzt!« und rufen die Menschen auf, diese direkt an den Bundesgesundheitsminister schicken. Sie wollen damit deutlich machen, wie groß die Unterstützung für eine solidarische Pflegevollversicherung ist, um gegen jene Stimmen anzukommen, deren Antwort auf steigende Kosten immer mehr oder ausschließlich die Individualisierung des Pflegerisikos ist.
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