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Tegel: »Größte, teuerste und schlechteste Unterkunft in Berlin«
Bewohner, Politiker und Zivilgesellschaft fordern Schließung des Ankunftszentrums für Geflüchtete
»Die Situation ist wirklich schlimm.« Ein Bewohner der Massenunterkunft für Geflüchtete in Tegel berichtet über die dortigen Zustände. Er nimmt an einem Fachgespräch zum Ankunftszentrum teil, das die Fraktionen der Linken und Grünen im Abgeordnetenhaus organisiert haben. Am Dienstag beschweren sich dort nicht nur Bewohner*innen, sondern auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie Unicef und der Flüchtlingsrat über die Situation in Tegel. »Wenn ihr uns irgendwie helfen könnt: Wir möchten aus Tegel ausziehen«, sagt der aus der Ukraine geflüchtete Tegel-Bewohner.
Usama Ibrahim-Kind von Unicef Deutschland kritisiert vor allem die schwierige Situation von Kindern in der Massenunterkunft. »Das ist kein Ort für Kinder«, sagt er. Das habe auch ein gemeinsamer Besuch in Tegel mit Ann Skelton, der Vorsitzenden des Kinderrechtsausschusses der Vereinten Nationen, eindrücklich gezeigt. Ibrahim-Kind fordert von den verantwortlichen Landespolitiker*innen, alle Anstrengungen darauf zu fokussieren, die Geflüchteten anderswo unterzubringen. »Die Probleme von Tegel lassen sich nicht in Tegel lösen.« Und dennoch: Solange das Ankunftszentrum weiter bestehe, müssten sofort Maßnahmen zum Schutz besonders schutzbedürftiger Menschen umgesetzt werden. »Es braucht ein verbindliches Schutzkonzept mit regelmäßigem Monitoring.«
Die Unterkunft in Tegel kostet das Land viel Geld. 260 Euro pro untergebrachter Person pro Tag, so beziffert der Grünen-Abgeordnete Jian Omar die laufenden Kosten. 450 Millionen Euro im Jahr nennt Tareq Alaows von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Die Summe habe er durch eine Anfrage nach dem Berliner Informationsfreiheitsgesetz in Erfahrung gebracht. »Die einzige Forderung, die wir von Pro Asyl haben: Es muss die Entscheidung getroffen werden, Tegel sofort zu schließen.«
Die Schließung von Tegel befürworten alle auf dem Podium, auch der Koordinator für Flüchtlingsangelegenheiten des Landes Berlin, Albrecht Broemme. Das Land selbst habe das klar formulierte Ziel, die Menschen aus Tegel an anderen Orten unterzubringen. Die Finanzierung sei in Anbetracht dessen, was Tegel kostet, nicht das Problem: »Für zwei Tage Tegel könnten wir eine neue Unterkunft bauen.« Doch dafür fehlten die Flächen: Mit prognostizierten 6000 weiteren in Berlin ankommenden Geflüchteten samt der zurzeit in Tegel untergebrachten fehlten zum Ende des Jahres etwa 11 000 dezentrale Unterbringungsplätze. Bislang habe er 16 Orte für Container-Unterkünfte in den Bezirken gefunden, insgesamt müssten es bis zu 50 Orte werden, sagt Broemme.
»Wenn wir sozialen Wohnungsbau angehen würden, wenn Geflüchtete einen Wohnberechtigungsschein bekommen könnten, dann müssten wir gar nicht über Massenunterkünfte reden«, sagt Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin. Sie wirft den Verantwortlichen vor, die Zustände in Tegel dienten der Abschreckung.
Der Saal im Abgeordnetenhaus ist gut gefüllt, etwa 80 Menschen sind gekommen, um am Gespräch über Tegel teilzunehmen. Es sind viele Vertreter*innen von Beratungsstellen und anderen Initiativen anwesend, die Geflüchtete unterstützen. Sie alle beklagen, dass sie keinen Zugang zum Ankunftszentrum in Tegel erhielten, dass die Unterkunft und ihre Bewohner*innen isoliert seien. Timon Bühler vom Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Geflüchtete und Migrant*innen (BBZ) erzählt, dass seine Oganisation nur vor einem Terminal Beratung zu Asylverfahren anbieten könne. Dort seien aber Ukrainer*innen untergebracht, die gar nicht in den regulären Asylverfahren landeten. So werde der Zugang zur Zielgruppe der Beratung erheblich erschwert, die aber benötigt werde. Bühlers Erfahrung nach sind die Bewohner*innen in Tegel schlechter über den Ablauf der Asylverfahren informiert als in anderen Unterkünften in Berlin.
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Die Vorstandsvorsitzende der Allianz der ukrainischen Organisationen, Oleksandra Bienert, spricht von Menschenrechtsverletzungen in Tegel. »Berlin hält die Mindeststandards nicht ein.« Sie erzählt von einem Vater mit einem Baby und einem weiteren kleinen Kind, die sich ein Bett teilen müssten. Die mangelnde Privatsphäre führe dazu, dass sich Frauen zum Beispiel kaum blickgeschützt umziehen könnten. Es gebe inzwischen auch einen Brief von Bewohner*innen Tegels an die Integrationsbeauftragte des Landes, ein »Notschrei«, sagt sie.
Die Politiker*innen von Linken und Grünen wollen ebenfalls die Schließung der Unterkunft in Tegel schnellstmöglich erreichen und bis dahin menschenwürdige Mindeststandards umsetzen. Bettina Jarasch, Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen, verweist darauf, dass Tegel nie wie geplant ein »Drehkreuz« war, in dem ankommende Geflüchtete nur wenige Nächte verbringen. »Das ist kein Ankunftszentrum, das ist eine riesige Gemeinschaftsunterkunft.«
Die migrationspolitischen Sprecher*innen der jeweiligen Fraktionen, Elif Eralp (Linke) und Jian Omar (Grüne), versuchen bereits seit Längerem, durch Anfragen an den Senat und Gespräche mit den Regierungsparteien eine Änderung in Tegel zu erwirken. Sie wollen die Ergebnisse und Fragen aus dem Fachgespräch in einem Antrag zusammenfassen, um das Thema wieder auf die Tagesordnung der Landespolitik zu setzen. »Es ist die größte, teuerste und schlechteste Unterkunft, die es in Berlin je gab«, sagt Omar zum Ankunftszentrum Tegel.
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