Fahrrad-Demo in Berlin: Gegen das Recht des Stärkeren

»Ride of Silence« erinnert an getötete und verletzte Radfahrende

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein weißes Fahrrad erinnert an einen verstorbenen Radfahrer.
Ein weißes Fahrrad erinnert an einen verstorbenen Radfahrer.

Bernd Wissmann fuhr an einem kalten Freitagnachmittag im Februar 2020 mit seinem Fahrrad gerade über den Savignyplatz in Charlottenburg, als es passierte: Auf der Kantstraße beschleunigte ein Raser seinen 600-PS-starken BMW auf 80 Stundenkilometer – obwohl dort Tempo 30 gilt. Dann überfuhr er eine rote Ampel, zog rechts an einem Transporter vorbei, kam ins Schlingern und geriet auf die Busspur. Genau dort war Wissmann unterwegs, da es auf der Kanstraße keinen richtigen Fahrradweg gab. Der BMW traf ihn mit hoher Geschwindigkeit, der 64-Jährige wurde mehrere Meter durch die Luft geschleudert und brach sich das Genick. Zwar konnte er vor Ort reanimiert werden, starb jedoch wenig später im Krankenhaus.

Vier Jahre später, am Mittwochabend, haben sich nach Angaben der Berliner Polizei 380 Fahrradfahrende an dieser Stelle auf dem Savignyplatz versammelt. Fast alle tragen weiße T-Shirts. Susanne Grittner vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) erzählt Wissmans Geschichte: Er war Architekt, hatte zwei erwachsene Kinder und hätte mittlerweile drei Enkel. »Er hat sich an dieser Stelle an alle Verkehrsregeln gehalten«, betont Grittner. Nach seinem Tod sei vehement für bessere Radinfrastruktur demonstriert worden, bis ein Pop-up-Radweg geschaffen wurde, der jedoch immer noch provisorisch sei.

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Anlass, um heute wieder an Wissmann und andere Verkehrsopfer zu erinnern, ist der alljährliche »Ride of Silence« (Fahrt der Stille), ein weltweiter Aktionstag für auf öffentlichen Straßen getötete oder verletzte Radfahrende. Seit 2016 organisiert der ADFC an diesem Tag eine schweigende Fahrraddemonstration entlang der Orte, an denen sogenannte Geisterräder stehen. Die weißen Fahrräder werden dort aufgestellt, wo ein*e Radfahrer*in ums Leben kam. Seit 2008 sind es in Berlin insgesamt rund 180, allein 2023 waren es 14.

Die Todeszahlen hätten sich in den vergangenen Jahren kaum verändert, sagt ADFC-Sprecher Karl Grünberg zu »nd«. Erschreckend sei aber auch die in vielen Jahren vierstellige Anzahl an Verletzten. »Wer von einem Auto oder einem Lkw umgefahren wird, kann sein vorheriges Leben oft nicht weiterführen, sitzt womöglich im Rollstuhl.« Die häufigste Unfallursache seien an Kreuzungen rechts abbiegende Fahrzeuge, die meist zur selben Zeit Grün haben wie die geradeaus fahrenden Radfahrer*innen. Kommen Letztere von einem Hochbord-Radweg, seien sie aus einem Lkw kaum zu sehen. Zudem führen viele Lasterfahrende schneller als im vorgeschriebenen Schritttempo um die Kurve.

Eigentlich würden simple Maßnahmen helfen: eine andere Ampelschaltung, verpflichtende Abbiegeassistenten für Lkw und Busse, Tempo 30, vor allem aber mehr Polizeikontrollen. Das fordert der ADFC schon lange, doch in der Senatsverkehrsverwaltung »hat die Sicherheit von Fahrradfahrenden und Zufußgehenden offenbar keine hohe Priorität«, urteilt Grünberg. In anderen Städten wie Kopenhagen oder Lyon, wo die Straßen konsequent fahrradfreundlich umgebaut worden seien, sei die Vision Zero – also das Ziel von null Verkehrstoten, das auch Leitbild des Berliner Mobilitätsgesetzes ist – längst in erreichbare Nähe gerückt.

Für Demoteilnehmerin Julia Fertig ist Verkehrssicherheit auch eine Frage der Gerechtigkeit. »Mobilität muss für alle sicher sein, nicht nur für die Stärksten«, sagt sie vor Beginn der Demonstration am Roten Rathaus zu »nd«. Als geübte Radfahrerin fühle sie sich selbst relativ sicher, doch um ihre beiden Kinder mache sie sich große Sorgen. Auch sie wünscht sich – neben einem Radwegeausbau – mehr Kontrollen der Verkehrsregeln. »Regelüberschreitungen sind zur Norm geworden. Überall wird geparkt oder zu schnell gefahren«, so ihre Wahrnehmung des Verkehrs. Wie viele andere Teilnehmer*innen der Fahrraddemo trägt Fertig einen Helm und das weiße »Ride of Silence«-Shirt des ADFC.

Um kurz nach sieben brechen Menschen auf ganz unterschiedlichen Rädern – älteren klapprigen, schicken sportlichen, Lasten- oder Liegendrädern, manche mit Kind im Anhänger – vom Alexanderplatz auf Richtung Westen. Teilweise ist nur das Rattern der Ketten zu hören. Anders als bei einer klassischen Critical Mass gibt es keine Musik, kein Geklingel, keine lauten Gespräche. Nur einmal lässt eine Person auf einem Motorrad, die warten muss, provozierend den Motor aufheulen. Einige Radfahrende haben Vision-Zero-Flaggen am Rad befestigt oder halten Schilder mit der Aufschrift »Gedenkfahrt nach tödlichem Fahrradunfall« in die Höhe.

Am Savignyplatz hält die Demo am Geisterrad von Bernd Wissmann. Susanne Grittner vom ADFC verliest Forderungen an den Senat: Die neue Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) solle für eine bessere Fahrradinfrastruktur sorgen, Innensenatorin Iris Spranger (SPD) für eine konsequente Sanktionierung von Verkehrsregelverstößen. Aber auch die Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) nimmt sie ins Visier. Denn oft würden Betroffene, Angehörige und Zeug*innen eines Verkehrsunfalls jahrelang auf ein Gerichtsverfahren warten – im Fall von Bernd Wissmann waren es dreieinhalb Jahre.

Die Gerichtstermine seien mehrmals abgesagt worden, häufig weil der Angeklagte sich krank gemeldet habe. »Verzögerungen sind ein taktisches Mittel der Verteidigung, denn dadurch verjähren Vorstrafen«, erklärt Grittner. Und nach diesen dreieinhalb Jahren habe der Richter lediglich einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung ausgesprochen. Der Raser sei zu einem Jahr Bewährung verurteilt worden und habe insgesamt fünf Jahre den Führerschein entzogen bekommen.

»Wir dürfen es nicht mehr hinnehmen, dass Menschen im Straßenverkehr getötet oder schwer verletzt werden. Das kann sich eine Gesellschaft nicht leisten«, so Grittner. Anschließend wird das Geisterrad von Bernd Wissmann auf ein Lastenrad geladen und im weiteren Verlauf der Fahrraddemo an das Deutsche Technikmuseum übergeben, wo es nun Teil einer Ausstellung werden soll.

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