- Kultur
- Schule in der Klassengesellschaft
Konkurrenz, aber bitte für alle
Das deutsche Schulsystem hat katastrophale Mängel. Unter anderem steht hier ein »Bildungsklassismus« in der Kritik.
Bildung gilt als Allheilmittel für gesellschaftliche Missstände. So lässt sich auch der aktuelle Trend im Bildungssystem hin zum Kampf gegen Diskriminierungen aller Art verstehen: die »Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft«, auch Klassismus genannt. Ziel ist die Garantie von mehr Teilhabe, Chancen für alle, mehr Gerechtigkeit. Für all das könne das Bildungssystem sorgen, heißt es. Denn Bildung sei der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe, Mündigkeit, aber auch zu Erfolg und gesellschaftlichem Aufstieg. Bildung könne Perspektiven eröffnen und es jedem Einzelnen ermöglichen, seine oder ihre Talente zu entfalten.
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Die Bildungsidealist*innen finden an dieser Stelle allerdings einen Widerspruch zwischen der Möglichkeit von Bildung und ihrer derzeitigen Wirklichkeit vor. Denn es ist seit Jahrzehnten erwiesen, dass gerade das deutsche Schul- und Hochschulsystem soziale Ungleichheit nicht etwa auflöst, sondern reproduziert und zementiert. Der sachliche Befund ist, dass Arbeiter*innenkinder unterproportional im höheren Bildungswesen vertreten sind. Dieser Befund wird als Kritik an das Bildungswesen herangetragen, mit dem Vorwurf, die Bildungspolitik sorge nicht dafür, dass Arbeiter*innenkinder in der Regelschule die gleichen Chancen hätten wie Kinder von Akademiker*innen. Im Anschluss daran wird die Bildungspolitik dafür kritisiert, dass sie etwas unterlasse, was eigentlich ihre Aufgabe und auch ihr Zweck sei. Nicht kritisiert wird dabei das, was die Bildungspolitik tatsächlich tut, oder gar warum sie das tut. Die Kritik trifft stattdessen ein in der Realität nicht vorzufindendes Ideal.
Von wegen sozialer Aufstieg
Allerlei Statistiken führen uns vor Augen, dass das Bildungsniveau der Eltern den Schulabschluss der Kinder faktisch maßgeblich beeinflusst. Hier entdecken Klassismus-Kritiker*innen eine Fehlkonstruktion des Bildungssystems. Ihrer Kritik am Bildungssystem liegt eine Gesellschaftskritik zugrunde, die einen bestimmten moralischen Maßstab anlegt. Sie lautet folgendermaßen: Es wird festgestellt, dass es ein Gefälle von Reich nach Arm gibt – und dementsprechend ein Gefälle von gut bezahlten Akademiker*innenjobs hin zu schlecht bezahlten Jobs für Arbeiter*innen. Das kritisieren die Klassismus-Kritiker*innen als ungerecht und formulieren die Forderung, dass alle, und allen voran die Arbeiter*innenkinder, bessere Chancen haben sollten, in diesem System die guten Stellen zu bekommen. Man legt diesen impliziten Maßstab an, um daraus Konsequenzen für das Bildungssystem abzuleiten: Man möchte einen »Aufstieg durch Bildung« ermöglichen – per Chancengleichheit, neuerdings auch Chancengerechtigkeit.
Für beide Forderungen gilt aber das gleiche Problem: Diese Kritik übergeht ihr eigenes Urteil über die Gesellschaft, das ja überhaupt erst den Grund für die Kritik lieferte. Das bemängelte Gefälle von Reich nach Arm wird so stillschweigend affirmiert, hätte doch die Realisierung von mehr Aufstiegschancen für Arbeiter*innenkinder logischerweise den Abstieg von Akademiker*innenkindern zur Konsequenz. Denn gesellschaftlich gesehen müssen nun mal alle Jobs der bestehenden, kapitalistisch gesetzten Berufshierarchie besetzt werden – auch die vielen beschissenen.
Nehmen wir den Maßstab Chancengerechtigkeit mal ernst – was taugt er überhaupt? Arbeiter*innenkinder haben, so die Klassismus-Kritiker*innen, deshalb geringere Chancen auf einen Bildungsaufstieg, weil es im staatlichen Bildungssystem nicht chancengerecht zugehe: zum Beispiel durch fehlerhafte Selektionsmechanismen, allem voran durch Vorurteile sogenannter Gatekeeper*innen. Dadurch würden viele Kinder Schulen zugewiesen, die man ihrer vermeintlichen sozialen Position zuschreibe. Durch entsprechende Klassismus-Sensibilisierungen, vor allem an sogenannten Bildungsschwellen, ließe sich erreichen, dass die Kinder nicht weiter nach klassistischen Zuschreibungen sortiert würden.
Sortierung steht nicht infrage
Das angestrebte Ziel ist also, dass Schüler*innen in Schulen mit »für sie passenden« Lernformen einsortiert werden. Und hier setzt nun eine Klassismus-Sensibilisierung wiederum selbst ins Recht, dass das Schulsystem durchaus Unterschiede machen darf! Klassismus-Kritiker*innen wollen nur die Abschaffung sogenannter sachfremder Bewertungsmaßstäbe bewirken. So sollten etwa der Name, das Sprachverhalten oder das Wissen um ein kognitiv wenig anregendes oder unterstützendes Elternhaus keine Rolle spielen. (Nebenbei bemerkt: All das spielt definitiv eine tragende Rolle in der Fähigkeit von Schüler*innen, im Schulsystem gut zu bestehen – und wird eben auch durch spätere »anti-klassistische« Maßnahmen nicht verändert!)
Was hier schlussendlich gestärkt werden soll, ist eine wirkliche, weil effizientere und chancengleiche Leistungsgesellschaft. Ein Bildungssystem, in dem – ganz diskriminierungsfrei – allein der meritokratische Maßstab bei der Bewertung zählt: Verdienst nach Arbeitsleistung. Der andauernde Wettbewerb, die ständige Konkurrenz aller gegen alle mit dem Ziel des notwendigen Ausschlusses vieler von höherer Bildung, um diese dann tatsächlich passend zu ihrem sachlich-objektiv ermittelten Leistungsniveau den niedrigeren Stufen der Berufshierarchie zuordnen zu können – das ist Gerechtigkeit. Grundlage dieses Gerechtigkeitsmaßstabes ist die Vorstellung der lern- und leistungswilligen Schüler*in, die es schaffen kann, wenn sie sich nur genügend anstrengt.
Währenddessen führen die andauernde Anstrengung, die ständige Konkurrenz und der pausenlose Wettbewerb bei der Mehrzahl der Lernenden zu Schuldgefühlen, Demütigung, Ausschluss, Unzufriedenheit und Frustration. Wenn es hierbei diskriminierungsfrei zugeht, wird am Ende des Tages trotzdem die gleiche Anzahl von Schüler*innen gedemütigt, ausgeschlossen, unzufrieden und frustriert zurückgelassen. Das Schuldgefühl wird sogar größer sein, denn in einem wirklich fairen, rein leistungsgerechten Wettbewerb bleibt der einzige Grund für das Scheitern im Vergleich mit den anderen das persönliche Versagen: Ich kann nicht genug, ich will nicht genug, ich bin nicht gut genug. Ungleichheiten – Lerndefizite, finanzielle Defizite und Ähnliches –, die bereits vor dem Eintritt ins Schulsystem bestanden haben, werden auf diese Weise ignoriert und gleichsam legitimiert. Ist ja alles mit rechten Dingen, sprich, völlig gerecht zugegangen!
Meritokratische Ideologie
In Wirklichkeit leistet das bürgerliche Bildungssystem die ideologische funktionale Vorarbeit, das Klassenverhältnis nicht nur zu akzeptieren, sondern sowohl das Konkurrenzverhältnis zu den Mitmenschen wie auch die Schuld am eigenen Versagen zu internalisieren. Ein Bildungssystem, das Lernen als chancengleiche Konkurrenzveranstaltung organisiert und notwendigerweise einen Haufen an Bildungsversagern produziert, sorgt schon von selbst dafür, die Schuld am Versagen systematisch zur Selbstzuschreibung zu machen. Die objektive Leistung der anti-klassistischen Theorie ist es hier lediglich, mehr brauchbare Ressourcen in der allgemeinen Konkurrenz verfügbar zu machen.
Das meritokratische Ideal – ein Verständnis von Gerechtigkeit im Sinne gerechter Verteilung per individueller, gar chancengleicher Leistung –, ist eine dem Kapitalismus dienliche, ideologische Legitimation der bestehenden Verhältnisse. Auf genau dieser Ebene bewegt sich Klassismus-Kritik als moralische Idealvorstellung. Deshalb ist die Entwicklung der Klassismus-Kritik über eine anti-diskriminatorische Position hinaus und zu einer antikapitalistischen Position nötig. Ohne einen tragfähigen, ökonomisch gehaltvollen Begriff von Klasse, ohne die Analyse des Produktionsprozesses, der Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse, lassen sich die Ursachen für Klassismus nicht in den Blick nehmen.
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