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»Indien hatte nie ein goldenes Zeitalter«
Der Politologe Achin Vanaik erklärt den Erfolg des Hindu-Nationalismus von Präsident Modi
In Deutschland warnen große Unternehmen und einige demokratische Parteien davor, für die AfD zu stimmen, da dies das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen würde. Auch Sie argumentieren, dass eine rechtsextreme Regierung ausländische Investoren und gut ausgebildete Arbeitnehmer davon abhalten würde, nach Deutschland zu kommen. In Indien scheinen Konzerne und rechtsextreme Regierung allerdings gut zusammenzuarbeiten. Wie ist das möglich?
Die großen indischen Unternehmen sorgen sich um den Fortbestand der neoliberalen Wirtschaftsausrichtung. Dieser neoliberale Wandel wurde bereits Anfang der 1990er Jahre von der Kongresspartei eingeleitet. Die hindunationalistische BJP setzte während ihrer ersten Regierungszeit von 1998 bis 2004 diese Ausrichtung fort. Als Narendra Modi 2014 mit der BJP die Regierungsgeschäfte übernahm, verfolgte er denselben Kurs, sorgte aber dafür, dass seine eigenen Kumpane aus seiner Zeit als Ministerpräsident in dem Bundesstaat Gujarat, nämlich die Milliardäre Mukesh Ambani und Gautam Adani, begünstigt wurden. Ihre Konzerne gehören heute zu den führenden indischen transnationalen Unternehmen.
Achin Vanaik ist emeritierter Professor für internationale Beziehungen und ehemaliger Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität Delhi. Er ist u. a. Autor des 2017 im britischen Verso-Verlag erschienenen Buches über den Aufstieg des hinduistischen Autoritarismus »The Rise of Hindu Authoritarianism: Secular Claims, Communal Realities«.
Wo führt diese Allianz zwischen Wirtschaft und Politik hin?
Die allgemeinen Auswirkungen der neoliberalen Wende in Indien sind andere als in Deutschland und im Westen. Dort ist es für große Teile der arbeitenden Bevölkerung schlimmer geworden als früher, als es einen stärkeren Wohlfahrtsstaat und weniger Arbeitslosigkeit gab. Auch in Indien hat die Ungleichheit dramatisch zugenommen, und die Wachstumsrate des Realeinkommens der unteren 50 Prozent ist sogar langsamer als in der Ära vor dem Neoliberalismus. Aber in absoluten Zahlen sind die Dinge trotzdem besser geworden. Indien hatte nie ein »goldenes Zeitalter« wie der Westen, mit dem die heutigen Bedingungen verglichen und als mangelhaft befunden werden könnten.
Darüber hinaus verfolgt Modi wie seine Vorgänger mit gezielten materiellen »Werbegeschenken« für Frauen und ärmere Bevölkerungsschichten eine kompensatorische Form des Neoliberalismus, wie die Bereitstellung von Gasflaschen zum Kochen oder eine bescheidene monatliche Bargeldüberweisung auf Haushaltskonten, die in einigen Bundesstaaten eingerichtet wurden. Neben dem zunehmenden ideologischen Einfluss des Hindu-Nationalismus auf das indische Großkapital, das von der Regierung »gelenkt« wird, hat sich in der Öffentlichkeit auch die Ansicht durchgesetzt, dass es größere »Trickle-down«-Vorteile für die breite Masse gibt (Anm.: Der Trickle-down-Effekt bezeichnet die These, dass der Einkommenszuwachs, den die Reichen in einer Gesellschaft erfahren, sukzessive auch zu den Mittelschichten und den Ärmeren in der Gesellschaft durchsickert). Natürlich gibt es Massenarmut und in den letzten Jahren eine wachsende Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung der gebildeten Jugend. Dennoch ist die öffentliche Wahrnehmung der Wirtschaftsleistung eine ganz andere, und die rassistische und ausgrenzende Ideologie der Modi-Regierung hat eine breitere Unterstützung.
In Indien dauern die Parlamentswahlen noch bis zum 1. Juni an. Wenn Modi und die BJP die Wahlen ein drittes Mal gewinnen – was bedeutet das für Minderheiten und die politische Opposition in Indien?
Modi und die BJP werden zurückkommen. Die Frage ist, ob die BJP eine noch größere Mehrheit erringen wird oder nicht. Wenn ja, wird sie eine noch stärkere institutionelle und emotionale Grundlage für die Sicherung der hinduistischen Vorherrschaft schaffen, was zulasten der Christen und Muslime geht. Die BJP agiert bei ihnen unterschiedlich: Christen sind nur etwa 2,3 Prozent der Bevölkerung. Unter den nordöstlichen Staaten gibt es vier – Nagaland, Mizoram, Arunachal Pradesh und Meghalaya – in denen Christen die Mehrheit bilden. Hier besteht die Taktik der BJP und der Vereinigung hindu-nationalistischer Organisationen Sangh Parivar darin, mit den sie vertretenden politischen Parteien zusammenzuarbeiten und die Regierungsmacht zu teilen. Der langsamere, schrittweise Prozess der Ausweitung des Hindutva-Einflusses und der Kontrolle vor Ort wird dem Aktivismus der Kader des Sangh Parivar und der Arbeit ihrer Schulen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft überlassen. Da der Westen über die Misshandlung von Christen besorgter ist als über die von Muslimen, sind die Hindutva-Kräfte in diesen Bundesstaaten im Allgemeinen vorsichtig in ihrem Handeln.
Was die politische Opposition anbelangt, so will die BJP den Einfluss der Regionalparteien schwächen und deren Unterstützung der Muslime, die zwischen 14 und 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, stetig verringern. Auch diese Parteien sollen es als Vorteil betrachten, sich mit der BJP zu verbünden, um dadurch eine gewisse Bedeutung zu behalten.
Hat die Repression insgesamt zugenommen?
Ja. Auf der überparteilichen zivilgesellschaftlichen Ebene werden Medien zunehmend zensiert – die Regierung hat eine eigene »Faktenprüfstelle« eingerichtet, die befugt ist, Material zu entfernen, das als anti-national gilt oder religiöse Hindu-Gefühle verletzt. Die Ausweitung der Überwachungskapazitäten und die neu eingeführten Strafgesetze sollen Andersdenkende einschüchtern, zum Schweigen bringen und einige ausgewählte Andersdenkende bestrafen, unabhängig davon, ob sie liberal, links oder einfach nur gegen die BJP sind.
Was bedeutet das für die muslimische Gemeinschaft? »Teile und herrsche« war ein wichtiges Instrument der politischen Herrschaft während der britischen Kolonialzeit. Verfolgen die BJP und die Sangh Parivar auch eine solche Politik?
Das britische »teile und herrsche« sollte die Einheit der kolonialisierten Bevölkerung verhindern, als der Anteil der Muslime viel höher war als heute und als Teile des Landes mehrheitlich eine muslimische Bevölkerung hatten. Außerdem wollten die Briten beide Seiten schwächen, um ihre kolonial-imperialistische Herrschaft aufrechtzuerhalten. Es ging nicht wie heute darum, einen religiös-exklusiven »Ethno-Nationalismus« zu etablieren, bei dem die ausgegrenzte Gruppe, nämlich die Muslime, dauerhaft auf den Status von verängstigten Bürgern zweiter Klasse reduziert wird. Die heutige muslimische Gemeinschaft konkurriert mit den Dalits darum, nach der indigenen Stammesbevölkerung die zweitärmste und am meisten benachteiligte Gemeinschaft zu sein. Als Gemeinschaft stellen die Muslime für niemanden eine Bedrohung dar. Aber sie sind die Hauptleidtragenden bei allen größeren religiösen Unruhen.
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Wie zeigt sich diese Diskriminierung?
Seit 2014 sind Muslime zunehmend Opfer lokaler Selbstjustiz. In vielen indischen Bundesstaaten gibt es Anti-Konversionsgesetze, die sich gegen Muslime richten, während Hindus offiziell mit der »Rückkonvertierung« zum »ursprünglichen Glauben« des Hinduismus davonkommen. In immer mehr Bundesstaaten müssen Eheschließungen zwischen muslimischen Männern und Hindu-Frauen erst von offizieller Seite genehmigt werden – was nicht immer geschieht, wenn etwa Familienangehörige oder Nachbarn behaupten, dass die Eheschließung erzwungen wurde oder dass die Braut vor der Hochzeit zum Islam konvertiert ist.
Im Dezember 2019 wurde mit dem Gesetz zur Änderung der Staatsbürgerschaft, dem Citizens Amendment Act, eine weitere religiöse Diskriminierung eingeführt. Nicht-muslimische Gemeinschaften, die vor Ende 2014 nach Indien gekommen sind, erhalten demnach Anspruch auf eine beschleunigte Einbürgerung. Sollte die BJP wieder an die Macht kommen, worauf alle Umfragen hindeuten, werden die verschiedenen Formen der Unterdrückung von Muslimen weitergehen.
Der Westen hält sich mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen, Abbau der Rechtsstaatlichkeit und Gräueltaten an Minderheiten in Indien zurück. Warum das?
Die heutige geopolitische Ordnung ist gekennzeichnet durch die Rivalität zwischen verschiedenen Mächten. Zum einen gibt es einen westlichen imperialistischen Block, bestehend aus den USA und ihren europäischen Verbündeten, und einem weiteren, aber schwächeren imperialistischen Block um Russland und seinen Verbündeten, sowie der aufstrebenden imperialistischen Macht China, die zunehmend als größte geopolitische Bedrohung für die USA angesehen wird. Indien sieht aufgrund seines jahrzehntelangen Konflikts mit China die Notwendigkeit, sich mit den USA und ihren Partnerstaaten zu verbünden, was wiederum für die USA und ihre »China-Eindämmungspolitik« von großer Bedeutung ist. Die USA und der Westen haben sich schon oft mit brutalen autoritären Regimen verbündet und sie sogar materiell und politisch unterstützt – man denke an die Apartheid in Südafrika – weil sie geopolitische Ambitionen hatten. Verbale Kritik der US-amerikanischen und westeuropäischen Regierungen am autoritären Verhalten der indischen Regierung wird es von Zeit zu Zeit geben, aber keine ernsthaften Sanktionen oder Strafen. Ganz im Gegensatz dazu agieren die fortschrittlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Westen: Die versuchen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Vorgänge in Indien zu verurteilen und die Opfer zu unterstützen.
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