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  • Film »Alle die Du bist«:

»Die Liebe zerfällt ebenso wie die Industrie«

Michael Fetter Nathansky über seinen im Kohlebergbau-Milieu angesiedelten Film »Alle die Du bist«, in dem sich Wirklichkeit und Fantasie vermischen

  • Interview: Susanne Gietl
  • Lesedauer: 5 Min.
Nadine (Aenne Schwarz, links) und Paul (Carlo Ljubek) sprechen alles aus und können trotzdem ihre Probleme nicht lösen.
Nadine (Aenne Schwarz, links) und Paul (Carlo Ljubek) sprechen alles aus und können trotzdem ihre Probleme nicht lösen.

Sie haben die ersten sieben Jahre Ihres Lebens in Köln verbracht, dann folgten vier Jahre in Madrid, danach sind Sie wieder nach Köln gezogen. In Ihrer Jugend mussten Sie sich oft auf neue Situationen einstellen, sich vielleicht auch neu (er)finden. »Alle die Du bist« ist eine Geschichte über viele Gestalten in einer Person. Ist der Film auch biografisch inspiriert?

Ich hatte eine wunderbare Kindheit, aber es hat mich geprägt, durch die Umzüge meine besten Freunde zu verlieren und eine neue Sprache lernen zu müssen. Ich war manchmal nicht wirklich Teil der Realität, sondern beobachtete nur viel. Das Gefühl, nie ganz am richtigen Ort beziehungsweise richtig da zu sein, teilen fast alle meine Figuren.

Paul trägt verschiedene Persönlichkeiten in sich. Im Film kommt das dadurch zum Ausdruck, dass er von verschiedenen Schauspielern verkörpert wird. Nur seine Frau Nadine allerdings erkennt seine verschiedenen Alter Egos.

Ich glaube, wir tragen alle viel mehr Rollen in uns, als wir uns manchmal eingestehen wollen. Für Nadine kann Paul alles sein: ein verletzliches Kind, ein Jugendlicher oder eine ganz andere Person. Sie nimmt alle diese Persönlichkeiten liebend an. Die anderen sehen immer nur eine Person, manche einfach nur einen Verrückten. Bei der Berlinale habe ich erlebt, dass einige Zuschauer Paul als Kind besser verstehen konnten, andere den sozusagen echten Paul. Im Grunde sagen die Rollen von Paul aber am Ende viel mehr über Nadine aus: Sie zeigen, was sie in ihm sehen will, welche Sehnsüchte und Bedürfnisse sie hat. Nadine hat übrigens auch zig Rollen in diesem Film, die allerdings alle von Aenne Schwarz gespielt werden.

Was war Ihnen wichtig, als Sie Pauls unterschiedliche Gestalten entwickelt haben?

Man sollte sie auf jeden Fall gut voneinander unterscheiden können. Ich wollte außerdem unbedingt, dass es ein Kind (Sammy Schrein) gibt, weil das eine Rolle ist, die wir, denke ich, alle sehr gut nachvollziehen können. Dann gibt es die Rolle von Paul als Frau, die für mich wie die Oma ist, die ich nie hatte. Jule Nebel-Linnenbaum, die diese Figur verkörpert, strahlt beim Spielen sehr viel Wärme aus. Wenn sie etwas sagt, wirkt das gleich ganz anders, als wenn eine andere Figur dasselbe sagen würde. Der »Haupt-Paul« wird von Carlo Ljubek gespielt. Im Film kämpft er um Nadines Liebe für ihn. Etwas von dem, das er verkörpert, gibt es auch in den anderen, so unterschiedlich sie in Bezug auf ihre Sprache, ihr Alter oder ihr Temperament auch sind.

Wie haben Sie diese Gestaltenwechsel filmisch umgesetzt?

Das war sehr herausfordernd. Die Wechsel sollten einen nahtlosen Übergang haben, um selbstverständlich zu wirken. Wenn die Gestalt von Paul wechselt, hat Aenne Schwarz die Szene einfach weitergespielt, obwohl wir mit dem »anderen Paul« erst eine Stunde später gedreht haben. Es war aus technischer Sicht auch nicht einfach, weil es im Film sehr oft Berührungen gibt, die Figuren also nicht nur »talking heads« sind. Sonst hätte man das in Dialogszenen ja durch Gegenschüsse darstellen können. Manchmal haben wir aber im Hintergrund die jeweilige Gestalt ausgetauscht oder das Problem über den Schnitt gelöst.

Die Handlung ist im Kohlebergbau angesiedelt, was dem Film etwas Realistisches, Geerdetes gibt; der unwirkliche Gestaltenwechsel bildet dazu einen Kontrast. Haben Sie sich deswegen für dieses raue Umfeld entschieden?

Mich interessierte in erster Linie eine universelle Geschichte über Liebe. Dann fragte ich mich: Wo möchte ich sie verorten? Mir erschien die Region auch passend, weil dort – ebenso wie in der Liebesgeschichte – eine große Unsicherheit herrscht. Die Liebe zerfällt ebenso wie die Industrie. Für mich ist es aber auch kein Widerspruch, in diesem rauen Milieu auch mit magischen Elementen zu arbeiten. Fantasie, Verspieltheit und Humor gibt es überall.

Sind wir, wenn wir etwas über die Arbeiterklasse erzählen, zu verkopft?

Ja. Ich wollte in ein Milieu gehen, über welches selten mit Fantasie erzählt wird. In Filmen sind die Menschen dort oft einfach nur auf ihre Arbeit reduziert. Man hat dann entweder Mitleid oder romantisiert alles. Im Gegensatz dazu ist Nadine eine selbstbestimmte Erzählerin der Geschichte. Natürlich haben sie und Paul viel mit den äußeren Umständen zu kämpfen, aber ich will auch zeigen, mit welchen Fragen sie sich noch auseinandersetzen: Wen und wie liebt man? Außerdem suche ich immer auch nach vermeintlichen Gegensätzen. Wenn es im Film traurig wird, will ich sofort etwas Absurdes reinbringen und andersherum. So bewege ich mich sozusagen fort.

Im Film sprechen alle Figuren deutlich aus, was sie fühlen. Das wirkt etwas befremdlich.

Es gibt im Film dieses Credo, dass Figuren nicht aussprechen dürfen, was sie fühlen und denken. Aber ich finde, wenn Figuren viel zu sagen haben, sollten sie das auch tun. Das Spannende in »Alle die Du bist« ist meiner Ansicht nach, dass die Figuren so viel wie möglich aussprechen, aber dennoch ihre Probleme nicht lösen können.

»Alle die Du bist«, Deutschland/Spanien 2024. Regie und Drehbuch: Michael Fetter Nathansky. Mit: Aenne Schwarz, Carlo Ljubek, Youness Aabbaz, Sammy Schrein, Jule Nebel-Linnenbaum, Naila Schuberth u. a. 108 Min. Jetzt im Kino.

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