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Ron Leshem: Die Monster in uns allen
Ron Leshem über die einschneidende Zäsur vom 7. Oktober für Israelis und Palästinenser
Ein weiteres Buch über den 7. Oktober vergangenes Jahr, das Massaker an jüdischen Zivilisten in Israel, ist erschienen, eine Reihe anderer Publikationen wird folgen. Der Autor, Ron Leshem, 1976 geboren, ist ein liberaler, »im Nahen Osten geborener schwuler Mann«, wie er sich selbst bezeichnet. Der Roman- und Drehbuchautor war zudem einst ein israelischer Geheimdienstoffizier. Seit zehn Jahren lebt er in Boston, weil er dem Frieden in Israel nicht traut.
Der 7. Oktober hat seinen Pessimismus (oder seinen Realismus) auf schreckliche Weise bestätigt. Leshem ist persönlich betroffen. Die Hamas ermordete seinen Onkel und seine Tante in einem Kibbuz, verschleppte als Geisel seinen Cousin, der auch deutscher Staatsbürger war, und brachte auch ihn um. Kibbuze galten einst als Symbol für Solidarität, Frieden und Völkerverständigung.
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Grausamste Details schildert der Autor gleich zu Beginn seines Buches, später ausführlicher noch in einem Kapitel, überschrieben als »Chronik eines Tages«. Folterbilder. Apokalyptische Abschlachtungen. Opferrituale. Der Mensch enthemmt und wild in Wolfsgestalt. Kaum zu ertragen sind diese Notizen, bestürzend und zutiefst verstörend. Massaker unter dem Fluch einer Religion.
Mehr als tausend Tote, entsetzlich zugerichtet, 240 verschleppte Geiseln. Der Überfall geschah planmäßig am Schabbat. »Ziel des Terrors ist immer«, schreibt Leshem, »unseren Glauben an die menschliche Natur zu vernichten.« Das langfristige Ziel der Hamas: ein Mehrfrontenkrieg mit dem Libanon, dem Iran, der Arabischen Liga und den Palästinensern innerhalb Israels. »Ein solcher Angriff war dafür gedacht«, schreibt Leshem, »die Monster in uns allen zu wecken und ein ganzes Volk dazu zu bringen, Tod und Rache zu wollen.«
Am aufschlussreichsten in Leshems Buch ist ein Kapitel, das bezeichnenderweise unter der Überschrift »Bürgerkrieg« steht. Mit rund neunzig Seiten ist es das längste, es nimmt knapp ein Drittel des Buches ein. Darin charakterisiert Leshem die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Israel.
Da sind die Messianisten, die Nationalreligiösen, die heutige rechtsextreme Siedlerbewegung, die mit Waffengewalt ihren Einflussbereich verteidigt und erweitert. Die Demokratie habe Gottes Gebot zu unterstehen, verlangen sie. In linken Kreisen »betrachtete man die Religiösen als eine fundamentalistische Gruppe«, schreibt Leshem, »die Israel zu zerstören drohte, indem sie das Land in einen religiösen, sich vom Westen abkoppelnden Apartheidstaat verwandelte«.
Dann gibt es die Charedim, die Gottesfürchtigen, jenen Bevölkerungsteil mit dem größten demografischen Zuwachs, heute knapp 13 Prozent der Bevölkerung, in fünfundzwanzig Jahren rechnet man mit 21 Prozent. Sie sehen, »nach eigenem Verständnis«, ihre Aufgabe darin, »die öffentlichen Kassen im Interesse der eigenen Wählerschaft zu plündern«. Ein großer Teil dieser ultraorthodoxen Juden »geht nicht arbeiten, lebt von staatlicher Beihilfe«, schreibt Leshem. Sie bewegen sich in »jüdischen Überlegenheitsgefühlen«, und sie würden ebenso versuchen, »Apartheidlösungen umzusetzen«.
Auch Regierungschef Benjamin Netanjahu, als mehrfach Angeklagter, kommt in Leshems Kritik nicht zu kurz. Der Autor äußert zudem den »Verdacht, dass Netanjahus «Bibisten» den Krieg lieber in die Länge ziehen wollen, denn solange er andauert, befasst man sich nicht mit ihrem Versagen und mit den gegen Netanjahu geführten Strafverfahren. Der Krieg schreitet ohne jegliches Ziel oder jeglichen Plan voran. Was aber soll am Tag danach geschehen?«
Leshem versucht in seinem Buch, beiden Seiten gerecht zu werden, den Israelis wie den Palästinensern. Es gelingt ihm tatsächlich eine ausgewogene Darstellung der verzwickten und hasserfüllten Lage. Der Autor blickt zurück auf die Gründung Israels 1948, skizziert »die Geschichte des Konflikts«, ergründet, woher die »Bezeichnung Palästina« stammt, nämlich von »Philistern, offenbar ein Volk von Seefahrern aus der griechischen Region, das 604 v. Chr. ausgelöscht wurde«. Sodann kommt Leshem auf »das Jahr null im Kreislauf der Gewalt zu sprechen, den Ursprung, an dem alles seinen Anfang nahm«. Dieses verortet er bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Der Autor stellt die verschiedenen Geschichtsbilder von beiden Seiten gegeneinander, lässt den Leser daran teilhaben, wie Wut und Hass jeweils erzeugt und begründet werden. Er benennt den »Beginn der palästinensischen Katastrophe«, die von vielen Israelis nicht anerkannt würde, weil jene meinen, dies »gefährde unser Existenzrecht«. Der dem Gründungsakt Israels folgende Krieg endete im Waffenstillstandsabkommen von Rhodos 1949, eine Vereinbarung mit den Nachbarn Ägypten, Jordanien, Syrien und Libanon. Die darin festgeschriebenen Grenzen seien weltweit »von der Mehrheit der Staaten« anerkannt worden, »selbst von den meisten arabischen Staaten«. Leshem merkt aber auch, dass »den Israelis im gleichen Zuge die Verantwortung aufgetragen« worden sei, den Verlust und den Schmerz anzuerkennen, den die Plästinenser mit ihrer Entwurzelung erlitten, was »Israel erst ermöglicht hatte, sich 1948 als demokratischer Staat und jüdische Heimat zu gründen«.
Heute ist vor allem der Iran an Explosionen in der Region interessiert, die Hamas sind Erfüllungsgehilfen. Netanjahus rechtsradikale Regierung befeuert die Auseinandersetzungen. Wie sollen aus dieser blutrünstigen Lage Auswege gefunden werden?
Die Situation sei zum Verzweifeln, bekennt Leshem. Sein Buch handelt nicht nur vom Krieg, »sondern ebenso von der zerrissenen, kranken Verfassung, in der Israel sich am Vorabend des 7. Oktober befand, und der Art und Weise, in der das Massaker das Land von Grund auf verändert hat und weiter verändern wird«. Und nicht nur diesen Staat. In den USA, in seiner Wahlheimat, registriert er besorgniserregenden Judenhass, vor allem unter jungen Menschen. Desinformationskampagnen über das Internet florieren auf abgründigem Niveau.
Das Schreiben sei ihm Trost, lässt Leshem wissen. Seine Wünsche und Visionen im letzten Kapitel unter der Überschrift »Ein Entwurf für Hoffnung, für Frieden« klingen unwirklich und verzweifelt in ihrer Ohnmacht eines Intellektuellen. Leshem selbst bemerkt zu Beginn des Buches: »Wir sind einander so ähnlich, das israelische Schicksal und das palästinensische sind derart ineinander verschlungen, dass man schon von ein und derselben, freilich zutiefst gespaltenen Persönlichkeit sprechen kann.« Deshalb zu guter Letzt sein verzweifelter Versuch, Lösungen anzubieten.
Eine Menschheitstragödie biblischen Ausmaßes ist zu beklagen. Schuld daran sind auch Religionen, die nicht friedensstiftend, sondern kriegstreibend sind. Ron Leshem hat ein bewegendes und tiefgründiges Buch verfasst, umfassend recherchiert und um Gerechtigkeit bemüht. An diesem Buch, das glänzend geschrieben und übersetzt ist, wird keiner vorbeikommen, der sich mit den aktuellen Ereignissen in Nahost beschäftigt.
Ron Leshem: Feuer. Israel und der 7. Oktober. A. d. Hebräischen v. Ulrike Harnisch und Markus Lemke. Rowohlt, 320 S., geb., 25 €.
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