- Sport
- Aufrüsten der Polizei
Fußballfans sorgen sich um ihre Sicherheit – und die Bürgerrechte
Mit der EM geht ein Aufrüsten der Polizei und eine Ausweitung fragwürdiger Überwachungsmaßnahmen in Deutschland einher
Die »Zeitenwende« markiert den letzten Erfolg der SPD. Nach der mittlerweile als gleichnamig bekannten Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz wurde sie zum Wort des Jahres 2022 gewählt. Einen neuen Tiefpunkt der Partei markiert die Europawahl – mit dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte bei einer bundesweiten Wahl. Also besinnen sich die Sozialdemokraten auf ihre Stärken – und damit geht es wieder zurück zur Zeitenwende und direkt hinein in die Fußball-Europameisterschaft.
Das bekannte Punktesammeln der Politik in der gesellschaftlichen Sympathietabelle läuft schon eine Weile. So war Scholz in bester Kanzlermanier in der Kabine der DFB-Elf, von Toren und Siegen der deutschen Nationalelf will er im Verlauf des Turniers profitieren. Und von der EM erhofft er sich nicht weniger, als dass sie »die Stimmung verändert, bei uns im Land, aber auch bei all den anderen Ländern, die teilnehmen«. Solch sommermärchenhafte Gedanken kommen nicht jedem. Mit »großer Besorgnis« blickt der Dachverband Fanhilfen auf das Turnier – und die Zeit danach. Die Vorsitzende Linda Röttig berichtete jüngst in einer Medienrunde von einer »Eskalationsspirale der Polizei« in der vergangenen Saison, ihre Liste mit »massiven Eingriffen in die Freiheits- und Bürgerrechte« ist lang. Als Rechtfertigung unverhältnismäßiger Einsätze sei von den Behörden oft die anstehende EM angeführt worden.
Bundesgesetz nach Hooligangewalt
Das hat Methode – und betrifft nicht nur Fußballfans, sondern wirkt tief in die Gesellschaft. Ein Beispiel: Im Jahr 2000 wurde auf Betreiben des damaligen Innenministers Otto Schily (SPD) ein neues Passgesetz beschlossen. Anlass waren die EM in diesem Jahr und die hässliche Gewalt deutscher Hooligans, die bei der WM zwei Jahre zuvor den französischen Polizisten Daniel Nivel fast zu Tode geprügelt hatten. Die Empörung hielt sich in Grenzen, es ging ja nur um Fußballfans. Doch ein Bundesgesetz gilt für jeden – und so durften ein Jahr später deutsche Globalisierungsgegner nicht zum G8-Gipfel nach Genua reisen. Gleiches geschah 2009 beim Nato-Gipfel in Straßburg.
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Zum Dachverband Fanhilfen gehören 23 Standorte in Deutschland und somit Tausende Fans. Vor der EM sah er sich nun erstmals gezwungen, eine Liste mit »erheblichen Grenzüberschreitungen durch die Polizei« zu veröffentlichen. 24 Spiele der vergangenen Saison sind dokumentiert, von der ersten bis zur vierten Liga. Erschreckend sei »nicht nur die Anzahl, sondern auch die Brutalität, mit der wahllos gegen Fans vorgegangen« wurde, erklärte die Vorsitzende Röttig. Auch hier ein Beispiel: Am 17. Februar wurden 855 Fans des Hamburger SV nach der Rückkehr vom Zweitligaspiel in Rostock eingekesselt und sieben Stunden lang am Bahnhof Hamburg-Bergedorf festgehalten. Der Grund: Die Suche nach wenigen mutmaßlichen männlichen Gewalttätern, die im September auffällig geworden sein sollen. Die Polizei beraubte dennoch auch Frauen ihrer Freiheit – und das bei einer nachweislich katastrophalen Versorgungslage. Die Fanhilfe erklärte dazu: »Auch aus der Politik setzte es im Nachhinein Kritik. Einige Monate zuvor soll der Einsatz der Polizei im Rahmen einer Übung schon simuliert worden sein, nun folgte die tatsächliche Ausführung.«
Die Vorwürfe, dass damit Einsatztaktiken für die EM zur Probe kamen, wurden von der Polizei, wie in anderen Fällen auch, nie dementiert. Deshalb erneuerte Linda Röttig die Kritik, dass »Fußballfans als Versuchskaninchen« benutzt werden. Zugleich zieht sie »Parallelen zur WM 2006« in Deutschland. Damals wurden massenhaft Betretungsverbote verhängt. Und das ist, wie anfangs beschrieben, gesamtgesellschaftlich relevant. Darüber, ob der Zutritt zu einzelnen Plätzen, ganzen Städten oder Ländern verwehrt wird, entscheiden Einträge in polizeilichen Datenbanken. Die »Datei Gewalttäter Sport« wurde schon mehrfach von verschiedenen Verwaltungsgerichten für »rechtswidrig« erklärt. Es gibt sie immer noch. Wie leicht man dort landen kann, weiß Linkspolitikerin Christiane Schneider. »Es reicht, mit einer Person, die mal auffällig geworden ist, an einer Frittenbude zu stehen«, erklärte die ehemalige Vizepräsidenten der Hamburgischen Bürgerschaft einmal im Gespräch mit »nd«.
Terrorgefahr als Deckmantel
Die Sicherheitslage hat sich in den Jahren verändert. Innenministerin Nancy Faeser spricht von einer »abstrakt sehr hohen Gefährdung«. Als »Bedrohung« nannte die SPD-Politikerin mit Blick auf die EM »islamistischen Terror, Hooligans und andere Gewalttäter und Cyberangriffe.« Worte wie diese von der Fanhilfe, die »zunehmende Repressionen und pauschale Grundrechtseingriffe unter dem Deckmantel der Terrorgefahr« beklagt, hört man ebenso seit Jahren, keineswegs nur aus dem Fußball.
Wie stellt sich nun Olaf Scholz die Veränderungen in Europa durch die EM vor? Im Koalitionsvertrag hatte die Bundesregierung vereinbart, die »Datei Gewalttäter Sport im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Datenschutz« zu reformieren. Nun wird sie ausgebaut, mit Daten aus EU-Staaten. Kontrollen sind derzeit wieder an allen deutschen Grenzen erlaubt. Und Neuss feiert sich als »Polizeihauptstadt Europas«. Mit diesen Worten eröffnete NRW-Innenminister Herbert Reul neulich das logistische Sicherheitszentrum »International Police Cooperation Center«.
»Es ist nur folgerichtig, dass die Zeitenwende auch innenpolitisch gesetzgeberische Maßnahmen für unsere Sicherheitsdienste nach sich zieht«, sagte Dirk Wiese Anfang April. Damit warb der SPD-Fraktionsvize für die Vorratsdatenspeicherung, die nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs seit September 2022 ausgesetzt ist. Bei der Europameisterschaft geht man schon weiter: Mittels einer sogenannten »Polizei-KI«, die beispielsweise Handydaten in Echtzeit auswertet. In einer derartigen »Rundumüberwachung, die auch nach der EM dann natürlich so bleiben soll«, erkennt Nikolaos Gazeas vom Deutschen Anwaltverein einen »Überwachungsstaat unter dem Deckmantel des Terrorschutzes«.
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