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»Dreigroschenoper«: Die Verhältnisse, sie sind nicht so

Das Gefängnistheater aufBruch blickt mit der »Dreigroschenoper« hinter die Architektur der gesellschaftlichen Ordnung

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Gangster-und-Huren-Nummer: »Die Dreigroschenoper«
Eine Gangster-und-Huren-Nummer: »Die Dreigroschenoper«

Wer einer Produktion des aufBruch-Theaters, diesen Sommer ist es »Die Dreigroschenoper« von Bertolt Brecht und Kurt Weill, beiwohnen will, muss sich freimachen. Die Justizvollzugsanstalt Tegel bietet zur Begrüßung nicht Brezeln, Sekt und Merchandise-Artikel, sondern verlangt von den Besuchern, Mobiltelefone, Geldbeutel, sogenannte Wertgegenstände in Schließfächern einzusperren.

»Teure Uhren haben hier nichts zu suchen«, meint eine Beamtin zu den immer nervöser werdenden Gästen. Kein Klatsch, kein Tratsch. Ein paar Schritte tiefer im Gefängniskomplex muss man dann noch seinen Personalausweis abgeben und sich von weiteren, allesamt groß gewachsenen Beamten und Beamtinnen abtasten lassen, damit sichergestellt ist, dass wirklich niemand etwas im Schuhwerk oder im BH mitführt. Kaum einer, der zum ersten Mal hier ist, wird dieses Verfahren nur als absurdes Theater wahrnehmen.

Dann geht es weiter, dritte Phase, und eine Kohorte wird über das Gelände zwischen den Häusern eskortiert – derzeit sind hier ungefähr 700 Männer inhaftiert. Häftlinge joggen im Kreis, spielen Tischtennis, machen Liegestütz am frühen Abend. Tore werden geöffnet und geschlossen, die Wärter machen Späße, ist ja Routine, manche Besucher schweigen sichtlich angespannt, andere wollen alles wissen: »Haben die Gefangenen die Blumenbeete hier angelegt?« »Nee, darum kümmert sich schon die Anstalt.« »Ist die Kirche noch in Betrieb?«

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Die JVA, diese besondere Teilzeit-Spielstätte im Berliner Norden, ist nicht ganz leicht zu erreichen am Premierentag: Der Staatsbesuch von Selenskyi und anderen Herren mit diplomatischer Immunität sorgt auch am zweiten Tag für Verkehrschaos in der Hauptstadt, zudem fährt die U-Bahnlinie 6 seit Jahren nur noch den Kurt-Schumacher-Platz, den »Kutschi«, an. Dann muss man mit dem Ersatzverkehr weiter. Aber wer es bis hierher geschafft hat, gehört trotz dieser Strapazen zu einer glücklichen Minderheit von Interessenten: Privilegierte Pressevertreter ausgenommen, musste man sich sputen, denn nach ungefähr 15 Minuten waren bereits alle Karten ausverkauft.

Die Aufführung findet im Innenhof eines mittlerweile leeren Gefängnistrakts statt. Diese »Dreigroschenoper« ist heute ein »Freiluftgefangenentheater mit Musik«. Die Musik kommt von einige Mitgliedern der Berliner Band 17 Hippies, die schon bei mehreren aufBruch-Produktionen dabei waren. Regisseur Peter Atanassow macht seit 27 Jahren Theater in Strafanstalten. Shakespeare, Goethe, Heiner Müller, Ernst Toller standen schon auf dem Programm.

Es sind klassische Werke, fremde Stoffe, Dialoge und Monologe in einer Sprache, die nichts mit dem Alltag zu tun hat. Neun Wochen lang wurde geprobt, vier bis fünf Tage die Woche, vier bis fünf Stunden am Tag, verrät Bühnenbildner Holger Syrbe. Viele der Schauspieler arbeiteten noch parallel in einem der handwerklichen Betriebe. Gleich drei Darsteller schreiben für die einzige unzensierte Gefängniszeitschrift Deutschlands, den »lichtblick«.

Im Publikum sitzen (mindestens) eine Germanistik-Professorin und ein Netflix-Serien-Star, einige ehemalige »aufBruch«-Darsteller, Verwandte der Schauspieler, Häftlinge, Justizbeamte, der Gefängnisdirektor. Es ist bewölkt, ein bisschen nieselt’s dann und wann, hin und wieder fliegen Vögel auf. In den rund zwei Stunden gelingt dem Ensemble dann aber mühelos; Wind und Wetter, Mauern und Zäune, den Strafapparat drum herum, vergessen zu machen. Statt Gähnen und Handysehnsucht, Lachen und Szenenapplaus.

»Die Dreigroschenoper« ist eine Oper für Bettler, verkündet der Erzähler (Muhammet) zu Beginn, und die Bettlerei, die Akkumulation von Almosen, ist das Geschäft von Mister Peachum: Er teilt seine mittellosen Mitarbeiter ein in verschiedene Klassen (Kriegsopfer, Industrieopfer etc.), die mit den Lebensgeschichten der armen Schlucker selbst nichts zu tun haben, »weil einem niemand sein eigenes Elend glaubt«. Im Akkord werden Plakate hergestellt mit Bibelworten, die das Geben loben. Er ist ein skrupelloser Mitleidsmanager, er wird grandios gespielt von Norman, der es versteht, alles Herablassende im Wesen des »Machers« auszudrücken in Tonfall und Körpersprache. Auf der Bühne ist immer was los. Die Darsteller sind Bettlerbande, Gangster und später auch noch Huren. Die drei Gewerke und Gewerbe überschneiden sich.

Gangster-Chef Macheath (charismatisch, charmant, intrigant: Paul E.), besser bekannt als Macky Messer, hat es auf Peachums Tochter Polly (gekonnt amüsant, konzentriert-launisch gespielt von Marco) abgesehen, will sie ehelichen, also einen Vorteil im Wettbewerb ums Geldverdienen ohne Frohn für fremde Herren. Das hatte die dauerbeschwipste Mrs. Peachum nicht auf dem Schirm, als sie dem »Captain« Macheath Einlass gewährte. Mrs. Peachum wird gespielt von H. Peter Maier, der die Gesellschaftsdame der Unterwelt dermaßen glaubwürdig zu geben versteht, mit präzisem Timing, Gespür für kleinste Gesten, gemeine Blicke, dass man zu keiner Sekunde an diesem Abend »Professionalität« vermissen würde. Im Gegenteil: Die Spielfreude, der Ernst, das Tempo geben dieser »Dreigroschenoper« eine Intensität, wie man sie bei Profis selten sieht, die ihre Institution, das Spiel an sich, die Rolle im Diskurs, die Lächerlichkeit der Illusion etc. dauerreflektieren müssen.

Das praktische Kastensystem auf der Bühne mit seinen vielen Türen, mehreren Ebenen, dem ständigen Umbau durch die Schauspieler lassen keine Zeit für leeres Dastehen und Daherreden. Anne Schartmanns Kostümteam ist im Dauereinsatz beim Outfit-Wechsel. Choreografie (etwa ein Boxkampf, Massenandrang) und Gesangspartien (im Chor wie Solo) lassen in Tegel eine alte Londoner Unterwelt auferstehen, die zeitlos funktioniert, nicht verstaubt wirkt, sondern ein Ort wird, an dem sich Verbrechen als Frage gesellschaftlicher Verhältnisse inszenieren lassen.

Es gibt Slapstick und allerlei Drag-Show, schließlich spielen die Männer auch die Huren, und zwar als mal streng professionelles, mal gelangweiltes, mal gewaltbereites Verführerinnenkollektiv. Wenn Polly und Mackies andere ja so geliebte Herzensdame Lucy (on point: Steffen Karehl) über den Macker lästern, kommt es sogar zu einer fast feministischen Verschwesterung der Betrogenen. Auf der Bühne werden die Häftlinge an diesem Abend jemand anderes, man hat, auch nach Selbstaussage, Spaß und Schutz, Spielraum mit der Rolle. Es herrschen andere Gesetze.

An einer langen Tafel bestellt Mackie Messer schließlich nicht nur einen Pfarrer für die gottlose Eheschließung mit Polly, sondern auch seinen alten Armee-Kumpel Tiger Brown (boss-like: Atak), der zufälligerweise Polizeichef Londons geworden ist. Gesetzeshüter und -brecher eint hier die Vergangenheit beim Militär, für beide Tätigkeiten lernt man Fähigkeiten beim Militär. Wenn er seinen besten Freund dann später doch einbuchten muss und Gitter Requisite werden, sehnt sich Brown nach den klaren Verhältnissen der Kolonialzeit zurück. Daraus wird aber nix. Genauso wenig wie aus dem Wunsch der Seeräuber-Jenny, ein Schiff solle kommen und London in Schutt und Asche legen – formidabel dargeboten von Adrian U., der genauso gut Pfarrer und Huren-Jenny mimen kann.

Und am Ende, wenn Königskrönung und Hinrichtung Mackies auf denselben Tag fallen sollen, kommt eh alles anders als geplant. »Die Dreigroschenoper« von Atanassow und Team wird mit stehenden Ovationen bejubelt, minutenlang, der Himmel hat sich gelichtet. Die Darsteller geben Interviews und dann wird ein Büffet eröffnet hinter der Tribüne. Besucher und Schauspieler kommen ins Gespräch, sind Verwandte, Liebespaare, alte Freunde. Die Leute unterhalten sich mit Volkan, Robin, Sven, Recep und nicht mit Insasse XYZ, der dieses oder jenes Delikt begangen hat. Die Anspannung, die den meisten Besuchern ins Gesicht geschrieben war auf dem Weg durch die menschenleeren Gänge, über die Plätze, wo man die Inhaftierten tatsächlich nur hinter Gittern aus der Ferne sehen konnte, ist verflogen.

Das Theater hat die Strafarchitektur, in der wir uns befinden, vergessen lassen – für ein paar Stunden, dann trennen sich die Wege, man wird wieder hinausgeleitet, soll nicht stehenbleiben. Die Illusionskunst ist geglückt, danach wird die Welt wieder grau und eng. Und doch gelang auch, im Sinne des epischen Theaters, dass wir »draußen« nicht mehr nur massive, kalte Mauern, Zäune gekrönt mit Stacheldraht sehen, sondern die Architektur der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Nächste Vorstellungen: 18., 20. und 21. Juni
www.gefaengnistheater.de

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