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Gewalt in Chiapas: Ein Jaguar setzt zum Sprung an
Viele hoffen nach dem Wahlsieg der Morena-Partei, dass die Gewalt im südmexikanischen Chiapas nachlässt. Dafür spricht aber nicht viel.
Spitznamen sind in Mexiko üblich. Bei den großen Figuren im Drogengeschäft sind diese oftmals bekannter als ihr offizieller Name. »Der schwarze Jaguar« ist der selbst gewählte, nicht gerade dezente Aliasname von Eduardo Ramírez Aguilar, dem zukünftigen Gouverneur des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas. Das klingt nach lokaler Verbundenheit und beinhaltet eine Message: Mit einem Raubtier legt man sich nicht an! Der Aufstieg des Politikers ist Sinnbild eines Konflikts innerhalb der als links geltenden Massenpartei Morena, der die Zukunft Mexikos bestimmen wird.
Nach zwei Jahrhunderten kommt mit Eduardo Ramírez in Chiapas ein Politiker an die Macht, der nicht aus der sogenannten Familia Chiapaneca stammt, der südmexikanischen weißen Oligarchie der Nachfahren spanischer Kolonialherren. Mühsam arbeitete Ramírez sich seit 2008 innerhalb der sogenannten Grünen Partei Mexikos (PVEM) vom Bürgermeister hoch zum Regierungssekretär unter Gouverneur Manuel Velasco Cuello aka El Güero (der Blonde) im Jahr 2012.
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Doch dann geriet seine Karriere ins Wanken. Verbindungen zu kriminellen Organisationen waren öffentlich geworden, Ramírez musste zurücktreten. Er habe sich mit Paramilitärs getroffen, sei verwickelt in Machtkämpfe und gewaltvolle Auseinandersetzungen. In den folgenden Jahren versuchte Ramírez, als Parlamentarier sein Image aufzubessern, doch immer wieder fiel sein Name, wenn in Chiapas über die organisierte Kriminalität gesprochen wurde.
Angesichts der grassierenden Gewalt in Mexiko sind das jedoch Randgeschichten, die auf nationaler Ebene kaum Aufmerksamkeit erzielen. Spektakulär dagegen war die Festnahme von Gilberto Rivera Amarillas – Tio Gil (Onkel Gil) – im Jahr 2016. Rivera war der regionale Chef des Sinaloa-Kartells in Chiapas, der sich in Guatemala versteckt hielt. Er wurde anschließend an die USA ausgeliefert. In einem Interview gab er zu, Regierungsfunktionären – darunter auch Ramírez bis zu dessen Rücktritt – ein monatliches Schmiergeld von fünf Millionen Dollar gezahlt zu haben. Das war das Ende von Ramírez’ Werdegang in der PVEM – aber noch lange nicht das Ende seiner Karriere als Politiker. 2018 trat er der künftigen Regierungspartei Morena (Bewegung nationaler Erneuerung) bei, was anfangs wenig Beachtung fand. Er erhielt einen Sitz im mexikanischen Senat, wurde sogar Fraktionsvorsitzender. Und hielt die Füße still. In den vergangenen Jahren erreichte die Gewalt von Kartellen, Staat und Militär, die im Norden Mexikos seit 2006 lodert, schleichend das südliche Chiapas. Der damals neue Präsident Andrés Manuél López Obrador (genannt AMLO) hat damit begonnen, den Bundesstaat und die Grenze zu militarisieren. Außerdem schüren neue Minenkonzessionen und Infrastruktur-Großprojekte regionale Konflikte um Land.
Die Auseinandersetzungen eskalierten, als im Juni 2021 El Junior, Sohn und Nachfolger von Tio Gil, auf offener Straße ermordet wurde. Seitdem wird im Bundesstaat die Vormachtstellung des Sinaloa-Kartells von der Konkurrenz aus dem Bundesstaat Jalisco angegriffen. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen beiden Kartellen sowie dem Militär. Dabei geht es um die Kontrolle wichtiger Transitrouten und ganzer Städte an der Grenze zu Guatemala.
Unter den Kämpfen leidet auch die lokale Bevölkerung. Sie steht ohnehin schon im Kreuzfeuer von Überwachung, Schutzgelderpressung und Zwangsrekrutierung. Täglich sind die Menschen gezwungen, schwere Entscheidungen zu treffen, zwischen der Einhaltung ihrer Grundsätze und der Sicherheit ihrer Familien.
Emiliano ist Busfahrer in Chiapas, genauso wie sein sein Schwager. Er kennt die blutigen Schießereien, hat gesehen, wie die Kartelle anschließend ihre Toten von den Straßen sammeln, bevor Militär und Ermittlungsbehörden eintreffen. Er musste es zulassen, dass Vermummte an Kontrollposten in seinen Bus stiegen und die Handychats seiner Passagiere inspizierten.
Im vorigen Jahr kamen jene schwer bewaffneten Männer auch zu ihm und seinem Schwager nach Hause und stellten Bedingungen: Sie sollten Schutzgeld zahlen und der Organisation beitreten oder ihre Fahrer-Lizenzen abgeben. »Mein Schwager zahlte, monatlich.« Emiliano kritisierte ihn dafür. »Schau, sagte ich zu ihm, das ist der falsche Weg. Wir machen uns zu Mittätern. Und vor dem anderen Kartell und dem Militär zu deren Feinden.« Emiliano gab seine Lizenz ab, erhielt aber weiterhin Drohungen. Nach langem Zögern gab er ihnen nach und verließ sein Dorf. Seither ist seine Familie zerrissen. Alle Mitglieder leben an verschiedenen Orten, die finanzielle Lage ist desaströs. Zwei Wochen nach dem Interview erreichte Emiliano eine Hiobsbotschaft: Sein Schwager wurde bei einer Auseinandersetzung vor den Augen seiner Kinder ermordet.
Das Schicksal von Emilianos Familie ist kein Einzelfall. Das mexikanische Verteidigungsministerium geht mittlerweile von 40 000 gewaltsam Vertriebenen aus, Präsident López Obrador hingegen leugnet die Gewalt in Chiapas und interpretiert sie als eine Erfindung von Menschenrechtsorganisationen und der Presse gegen seine Politik. Emiliano schreibt per Whatsapp: »Der Verlust schmerzt uns unendlich. Dass die Regierung das, was uns angetan wurde, auch noch leugnet, entbehrt jeder Würde.«
Mexiko hat einen blutigen Wahlkampf hinter sich. 37 Kandidaten wurden ermordet, allein in Chiapas zogen 500 Personen ihre Kandidatur nach Morddrohungen zurück. Doch nicht nur hier finden sich Morena-Mitglieder, denen enge Verbindungen zur organisierten Kriminalität nachgesagt werden. Überall im Land traten Politiker wie Ramírez der Massenpartei bei, um nach Skandalen mit einem Neuanfang zu starten.
Die Partei ist angesichts dieses Phänomens gespalten. Die linke sozialdemokratische Basis von Morena lehnt solche Personen eindeutig ab. Doch die Parteispitze glaubt in ihrem Streben nach Hegemonie, auf das Stimmpotenzial dieser umstrittenen, sich geläutert gebenden Akteure angewiesen zu sein. Schon nach den vorherigen Wahlen ist sichtbar geworden, dass viele dieser zumeist männlichen Politiker an ihren alten Verbindungen festhalten. Für die neue Regierung, die sich als linkes Transformationsprojekt darstellt, ist das ein gefährliches Spiel.
Ramírez trat für Morena zur Gouverneurswahl in Chiapas an und wurde mit überragenden 78 Prozent der Stimmen gewählt: ein in Demokratien eigentlich unerreichbares Wahlergebnis. So umstritten Ramírez auch ist, seine Verbindungen in die Kriminalität erwecken in Teilen der Bevölkerung romantisierte Erinnerungen an die Anfänge der Kartelle in Mexiko: als es noch eine Hierarchie unter den Kartellen gab, die Einflussgebiete respektiert wurden und illegale Geschäfte stattfanden, ohne dass die lokale Bevölkerung so sehr betroffen war. Emiliano kann sich noch gut an diese Zeit erinnern: »Klar wurde hier seit jeher geschmuggelt. Doch die Kartelle ließen die Menschen in Ruhe.«
Die Journalistin Ángeles Mariscal hat nach der Wahl die Konfliktregionen im Süden des Landes besucht: »Die Leute hoffen, Ramírez könne einen Deal zwischen den rivalisierenden Gruppen aushandeln.« Dies würde zwar keine Gerechtigkeit bedeuten, doch zumindest eine Art Waffenstillstand. Aber dieses Unterfangen ist komplex. Die Situation ist nicht mehr so überschaubar wie in den 80er Jahren. Die Kartelle reagieren auf Entwicklungen in der Politik. Es sind neue Geschäftsmodelle jenseits des Drogenhandels und diffuse Organisationsgebilde entstanden.
Aktuellen Analysen zufolge haben in Mexiko zwei Kartelle eine Vormachtstellung: Sinaloa und Jalisco Neue Generation. Beide Organisationen haben überregional so viel Macht akkumuliert, dass sie ihre Geschäfte international durchsetzen können. Doch neben ihnen gibt es eine Menge anderer Organisationen und krimineller Gruppen. Viele dieser Zusammenschlüsse sind in der Lage, auf regionaler Ebene ihre Geschäfte und die Bewohner*innen zu kontrollieren. Für die großen Kartelle sind sie entweder wichtige Verbündete oder erbitterte Feinde. Die Lage ist nur schwer zu durchschauen. Allianzen können täglich beendet oder neu geknüpft werden. Mit all diesen Akteuren einen Deal auszuhandeln, erscheint auch für Ángeles kaum möglich zu sein.
Für den neuen Gouverneur dürfte es schwer werden, die Lage zu entschärften. Die Journalistin berichtet von Gründen, warum die Menschen für Ramírez gestimmt haben. So lockte die Regierungspartei Morena mit neuen Sozialprogrammen: mehr Geld für Schulkinder und Rentner*innen. »Diese assistenzialistischen Programme verbessern die Situation nicht, dennoch sind sie für die Menschen in der aktuellen Lage sehr attraktiv«, analysiert Ángeles. Der übliche Stimmenkauf sei bei diesen Wahlen nicht entscheidend gewesen. »Was mich dagegen erschreckt hat, war das Ausmaß der an Bedingungen geknüpften Stimmabgabe.«
Die organisierte Kriminalität forderte via Whatsapp besonders die Vertriebenen zur Wahl auf. Das wurde immer wieder berichtet. Leisteten sie dem nicht Folge, würden sie ihre Rechte auf Land und Besitz in ihrer Heimatregion endgültig verlieren, so lautete die Drohung. Eine Rückkehr sei dann für immer ausgeschlossen. Viele machten sich also für den Tag der Wahl auf den traumatischen Weg zurück in die Krisenregion. Der Stimmanteil dieser Menschen war zwar nicht wahlentscheidend. Aber die Aussage dahinter war für die restliche Bevölkerung deutlich: Beide Kartelle und assoziierte Unterorganisationen legten den Menschen nahe, für Ramírez zu stimmen. Und knüpften ihnen für die Flucht außerdem ein saftiges Bußgeld ab.
Am 2. Juni, dem Tag der Abstimmung selbst, herrschte eine befremdliche Stille. »Es gab einen Deal zwischen den Gruppen, die Wahlen stattfinden zu lassen«, sagt Ángeles. Aber schon mit dem Schließen der Urnen fielen in der Landeshauptstadt Tuxtla Gutiérrez und in anderen Regionen die ersten Schüsse. Morena feierte währenddessen das überragende Wahlergebnis. Vom Blutzoll, der dafür gezahlt wurde, war keine Rede. Es bleibt abzuwarten, ob die Partei sich und Chiapas damit einen Gefallen getan hat, den Jaguar in die Manege zu lassen.
Die Parteispitze von Morena glaubt, auf das Stimmpotenzial umstrittener, sich geläutert gebender Akteure angewiesen zu sein. Aber die Basis der Partei lehnt solche Personen ab.
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