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Staatsoper Berlin: In Zwischenräumen

Die Politik und die Künste: Marc-André Dalbavies »Melancholie des Widerstands« an der Staatsoper Berlin

  • Kai Köhler
  • Lesedauer: 5 Min.
Wenn die alte Ordnung verrotet, ist immer jemand da, der mal so richtig aufräumen will. Meistens der Falsche.
Wenn die alte Ordnung verrotet, ist immer jemand da, der mal so richtig aufräumen will. Meistens der Falsche.

Die Stadt verrottet, aber in ihr streben vier miteinander verbundene Menschen auf ganz unterschiedliche Weise nach einer Ordnung. Für Madame Pflaum zählt ihre Wohnung als der Rückzugsraum, den sie sich erhalten möchte. Madame Esther hingegen hat eine politische Erneuerung zum Ziel: im Kleinen wie im Großen aufzuräumen. Dafür will sie ihren Mann einspannen, von dem sie getrennt lebt. Monsieur Esther soll sein Ansehen als ehemaliger Musikschuldirektor einsetzen, um die Neuordnung zu propagieren. Freilich verbringt er die Tage damit, Musik zu analysieren und vor allem, wieder und wieder, Akkorde auf seinem Klavier anzuschlagen und die »wirkliche Stimmung«, den idealen Zusammenklang wiederzufinden.

Er verabscheut seine Frau, und nur die Drohung, im Falle einer Weigerung werde sie wieder bei ihm einziehen, bringt ihn dazu, ihrem Drängen nachzugeben. Als Bote fungiert Valouchka, Briefträger und Sohn der Madame Pflaum, der als einziger Harmonie spürt und glücklich blind ist für die Verwahrlosung um ihn herum. Ihm, der innerlich wehrlos ist, steht der tiefste Fall bevor. Als ein gewalttätiger Prügeltrupp die Stadt heimsucht, lässt er sich abführen und beteiligt sich an den Verbrechen. Entsprechend hat er keinen Platz in der neuen Ordnung, die Madame Esther zuletzt errichtet.

Wenn der – in der Tat lästige – Verfall einfach so passiert, ist kaum mehr zu sagen, weshalb eine neue Ordnung falsch sein soll.

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Ist das ein politischer Plot? Ein paar Einzelheiten in dem Libretto, das Guillaume Métayer für die »Melancholie des Widerstands« nach dem gleichnamigen Roman von László Krasznahorkai von 1989 eingerichtet hat, weisen darauf hin. Die Gewalttäter, die das Chaos vervollständigen, scheinen Madame Esther gar nicht einmal unwillkommen. Sie dienen ihr als Anlass, Soldaten herbeizurufen und eine auf das Militär gestützte Herrschaft einzurichten; vielleicht hat sie die Nacht der geschwungenen Holzknüppel sogar selbst organisiert.

Gänzlich unklar bleibt jedoch, weshalb eigentlich zuvor der Müll sich auftürmt, die Straßen unsicher werden, die Züge nicht mehr richtig fahren. Wenn der – in der Tat lästige – Verfall einfach so passiert, ist kaum mehr zu sagen, weshalb eine neue Ordnung falsch sein soll. Seit Langem war geplant, wann die Oper des französischen Komponisten uraufgeführt werden sollte. Dass am selben Sonntag der Rassemblement National bei der ersten Runde der französischen Parlamentswahl stärkste Partei werden würde, ließ sich bei der Terminfestlegung nicht absehen.

Tatsächlich sind die führenden kapitalistischen Staaten im Westen von Jahr zu Jahr weniger in der Lage, grundlegende Funktionen des Zusammenlebens abzusichern. Fragt man nicht nach den Ursachen, so scheint die rechtsautoritäre Antwort angemessen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Oper diese Antwort propagiert. Von den vier Hauptpersonen ist Madame Esther sicherlich am wenigsten eine Sympathieträgerin. Doch handelt sie allein zielgerichtet. Der Widerstand ist – wie der Titel verrät – durch Melancholie charakterisiert. Die Gegenkräfte privatisieren, weichen aus; vielleicht ist gerade dies die politische Diagnose.

Das Werk ist im Untertitel als »filmische Oper« angekündigt. Tatsächlich dominiert eine große Leinwand das Bühnenbild von Amber Vandenhoeck. Davor steht das Klavier, mit dem Georges Esther dem reinen Klang nachforscht. Das Regieteam um David Marton misstraut der Oper, die mit einer »bombastischen Größendimension« arbeite. Daran stimmt, dass gerade an größeren Häusern die einzelne Figur auf der Bühne weit entfernt ist und in ihrer Körperlichkeit, gar der Mimik nur distanziert wahrgenommen wird. Vorgänge abzufilmen und stark vergrößert zu projizieren, ist schon seit Jahrzehnten nicht immer glückliche Praxis.

Der Abend an der Staatsoper treibt dieses Prinzip auf die Spitze. Im Programmbuch betont Marton die Gewinnseite: »Bei jeder Probe spüre ich, was uns das Filmische an menschlicher Wärme, jenseits der technischen Dimension des Apparats, geben kann. Nämlich den Blick auf die feinen Nuancen des Ausdrucks, auf sprechende Details eines Lebensraumes – eine emotionale Nähe zu den Darsteller*innen selber.«

Tatsächlich sieht man dank der Leinwand auch aus der letzten Reihe und vom 3. Rang hinunter mimische Details. Paradoxe Folge allerdings ist, dass die Sängerinnen und Sänger, wenn sie einmal nicht hinter der Bühne abgefilmt werden, sondern tatsächlich auftreten, verzwergt wirken. Was schert uns diese winzige Gestalt, wenn wir doch gleich wieder die riesige Projektion sehen? Die »filmische Oper« verschenkt einen großen Vorteil der Live-Aufführung gegenüber all den Aufzeichnungen, die im Internet verfügbar sind: nämlich dass ein Publikum mit der körperlichen Präsenz auf der Bühne konfrontiert ist.

Und die Musik? Die Stimmen bewegen sich meist im Grenzbereich von Sprechen und Gesang, mit durchaus eindrücklichen Wendungen. Wo man das hört und in Großaufnahme sieht, nimmt man es auch wahr. Anders steht es mit dem Orchesterpart. Die Übermacht des Optischen ist so groß, dass die Instrumentalbegleitung zum Soundtrack reduziert wird. Abgesehen von ein paar lauten Akkorden, die Dalbavie an Wendepunkte der Handlung gesetzt hat, muss man sich immer wieder mahnen, doch gefälligst hinzuhören. Der Komponist kommt ohne prägnante Motive aus, nimmt sich – wo sinnvoll – die Freiheit zu abgewandelten Zitaten und weiß Klänge so raffiniert zu mischen, dass man sich wünscht, die Musik einmal ohne all diese Bilder zu hören.

Gattungen zu mischen ist ein Wagnis, das oft scheitert. So auch hier: Die Oper – ohnehin voller Verweise zwischen Text, Musik und Szene – wird vom Film erdrückt. Für den Film hingegen ist nicht nur ein hoher Eintritt zu entrichten, ihm fehlt auch eine stringente Dramaturgie. Die verschiedenen Künste haben ihre je eigenen Regeln.

Ausgeführt wurde all dies vorbildlich. Dem Dirigat Marie Jacquots ist es zu verdanken, dass die Qualität des Orchesterparts wenigstens zu erahnen war. Unter den Sängern ist der Countertenor Philippe Jaroussky hervorzuheben, der dem kaum greifbaren Idealisten Valouchka seine zwischen den Geschlechtern stehende Stimme verlieh, aber auch dessen Fall in die Realität beklemmend gestaltete.

Nächste Vorstellungen: 4., 7. und 10. Juli

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