Begrenzte Gestaltungsmacht

Mexiko nach dem linken Erdrutschsieg: In welche Zukunft wird die neu gewählte Präsidentin Claudia Sheinbaum das Land führen?

  • Gerold Schmidt
  • Lesedauer: 8 Min.
Mexikos neue Präsidentin bei der Vorstellung von Kabinettsmitgliedern am 27. Juni 2024.
Mexikos neue Präsidentin bei der Vorstellung von Kabinettsmitgliedern am 27. Juni 2024.

Sie strahlen um die Wette. Einen Monat nach ihrem überwältigen Wahlsieg vom 2. Juni 2024 bereisen Claudia Sheinbaum, die frisch gewählte Präsidentin Mexikos, und ihr noch bis Ende September amtierender Vorgänger, Andrés Manuel López Obrador (kurz: Amlo), gemeinsam das Land. Innerhalb weniger Wochen wollen die Politiker*innen der linksgemäßigten Regierungspartei Nationale Erneuerungsbewegung (Morena) alle 32 Bundesstaaten besuchen. Manchmal scheint es, als ob sie sich dabei noch im Wahlkampfmodus befänden.

Nötig haben sie das nicht. Auch wenn das endgültige Wahlergebnis erst Ende August verkündet wird: Im Abgeordnetenhaus werden Morena und ihre Juniorpartner von der Arbeiterpartei und den mexikanischen Grünen über eine Zweidrittelmehrheit verfügen, und im Senat fehlen nur zwei Mandate zu dieser qualifizierten Mehrheit, die Verfassungsänderungen ermöglicht. Diese Ausgangslage gibt der neuen Regierung einen enormen Gestaltungsraum – zumindest in der Theorie.

Die Regierungskoalition wird mit der linken Feministin Clara Brugada erneut auch das Bürgermeisteramt von Mexiko-Stadt besetzen. Hier gewann Morena zudem vier Stadtbezirke von der Opposition zurück – nicht zuletzt ein Verdienst von Ex-Bürgermeisterin Sheinbaum. Zugewinne bei den in acht Bundesstaaten abgehaltenen Gouverneurswahlen haben die Machtposition der Regierung zusätzlich gestärkt.

Das rechtskonservative Oppositionsbündnis leckt derweil seine Wunden. Die beiden größeren wirtschaftsliberalen Oppositionsparteien von der Partei der Nationalen Aktion und der Partei der Institutionalisierten Revolution werden als korrupt, zerstritten und unfähig wahrgenommen. Der kleinste Bündnispartner, die einst linke Partei der Demokratischen Revolution, erreichte bei der Präsidentschaftswahl nicht einmal mehr zwei Prozent. Nach der überaus deutlichen Wahlschlappe sind die Oppositionsparteien so geschwächt, dass bereits über eine Parteineugründung spekuliert wird.

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Gemäßigt oder radikal

Wer von Claudia Sheinbaum und ihrer künftigen Regierung einen radikalen Linkskurs erwartet, dürfte vermutlich enttäuscht werden. Das haben die ersten Nachwahlwochen bereits gezeigt. Angesichts der sich abzeichnenden Zweidrittelmehrheiten für die Regierung bekamen die Investoren kalte Füße, die mexikanische Börse und der Peso brachen ein. Sheinbaum kündigte daraufhin an, den eher konservativen Finanzminister, Rogelio Ramírez de la O, im Amt zu bestätigen. Und sie setzte im Rahmen ihres paritätisch mit Frauen und Männern besetzten Kabinetts weitere Signale: Wirtschaftsminister wird Marcelo Ebrard, der frühere Außenminister und Sheinbaum-Konkurrent um die Präsidentschaftskandidatur; der ehemalige Rektor der Autonomen Nationaluniversität Mexikos übernimmt das Außen- und seine Vorgängerin das Umweltministerium. Alle drei sind ausgewiesene Fachleute, aber wahrlich keine Radikalen. Prompt wertete der mexikanische Peso wieder stark auf.

Die gewählte Präsidentin hat allerdings zugleich Kontinuität in der Sozialpolitik verkündet. »Die Armen zuerst«, lautete das Motto unter Amlo. Sheinbaum möchte diesen Kurs beibehalten und die Sozialprogramme für die unteren Einkommensschichten sogar ausbauen. So sollen Frauen künftig bereits in den fünf Jahren vor der Altersgrundrente, die ab 65 Jahren gilt, Unterstützung bekommen. Außerdem will Sheinbaum Stipendien für alle Schüler*innen an öffentlichen Grundschulen einführen. Die Strompreise sollen durch staatliche Subventionen niedrig bleiben, die Benzinpreise nicht schneller steigen als die Inflation.

Ob das Geld für all das reichen wird, ist fraglich. Nach Meinung von Expert*innen könnte nur eine radikale Steuerreform, die mit stark progressiven Sätzen einen Teil des Reichtums der Eliten abschöpft, mittel- und langfristig die erforderlichen Einnahmen generieren. Sheinbaum müsste sich dafür allerdings auf einen offenen Konflikt mit der mexikanischen Wirtschaftsoligarchie einlassen; doch sie hat bereits bekräftigt, keine Steuerreform zu beabsichtigen. Das könnte sich noch als Fehler erweisen. Denn sollte sie die Hoffnung der armen Bevölkerungsschichten auf mehr soziale Gerechtigkeit enttäuschen, kann sie deren beeindruckenden Rückhalt schnell verlieren.

Kein leichtes Erbe

Die Startbedingungen für die neue Regierung sind dennoch günstig, da sie kurzfristig auf eine stabile Wirtschaft zählen kann. Die Steuereinnahmen erreichten in den ersten fünf Monaten des Jahres Rekordmarken; auch die Zusagen für ausländische Direktinvestitionen und die Rücküberweisungen der Auslandsmexikaner*innen erzielen Höchstwerte. Die während der Covid-Pandemie eingebrochene Tourismusbranche erholt sich ebenfalls.

Zugleich bleiben die Herausforderungen jedoch enorm. Trotz der (stark karitativen) Sozialprogramme der Vorgänger-Regierung und der Erhöhung des Mindestlohns um real 110 Prozent seit 2019 ist die extreme Armut im Mexiko mit etwa sieben Prozent nahezu unverändert geblieben. Die sogenannte Einkommensarmut sank dagegen deutlich, von knapp 50 auf 43,5 Prozent. Das heißt aber auch: Immer noch können 56 Millionen Mexikaner*innen von ihrem Arbeitseinkommen alleine nicht leben. Einen strukturellen Wandel der oft ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in Mexiko hat die Amlo-Regierung im Zeitraum 2018 bis 2024 nicht erreicht.

Ein schweres Erbe bedeutet der unter Amlo enorm gewachsene Einfluss des mexikanischen Militärs in zivilen Bereichen. Vom umstrittenen Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán über Flughäfen, Häfen und eine eigene Fluglinie bis zum Infrastruktur- und Transportprojekt des »Interozeanischen Korridors« (eine Eisenbahnverbindung zwischen Atlantik- und Pazifikküste) und dem Bau der Zweigstellen der neuen staatlichen Wohlfahrtsbank – überall ist die Armee beteiligt, mal in kontrollierender Funktion, mal als direkte Betreiberin.

Die unter dem noch amtierenden Präsidenten geschaffene Nationalgarde ist faktisch ein verlängerter Arm der Militärs. Amlo führte stets Disziplin und Effizienz als Argumente für sein großes Vertrauen ins Militär an. Dessen Einfluss kurzfristig zurückzudrängen, scheint fast unmöglich. Noch schwieriger dürfte es sein, die Militärs für ihre vermutete Beteiligung an Verbrechen – wie dem Verschwindenlassen der 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa vor fast zehn Jahren – zur Rechenschaft zu ziehen. Daran scheiterte bereits López Obrador.

Die Menschenrechtslage in Mexiko ist in den meisten Regionen weiterhin schlecht. Auch unter Amlo wurden Jahr für Jahr mehr als 30 000 Personen ermordet. Die Morde stehen vor allem im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Drogenkartellen und anderen Formen der Organisierten Kriminalität. Viele Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltschützer*innen, Journalist*innen sowie kleinbäuerliche und indigene örtliche Führungspersönlichkeiten wurden getötet; unzählige andere müssen tagtäglich um ihr Leben fürchten. Etwa 100 000 Personen gelten in Mexiko als verschwunden. Sheinbaum wird zeigen müssen, ob sie für das Thema sensibler ist als López Obrador. Selbst wenn die Attacken auf die Opfer nicht vom Staat selbst ausgehen: Die Regierung war in den zurückliegenden Jahren nicht willens oder in der Lage, gefährdeten Personen hinreichend Schutz zu bieten. Und es ist weiterhin nicht absehbar, wie die Macht der Drogenkartelle gebrochen oder auch nur eingedämmt werden kann.

Energiepolitik als Chance

Eine auf den ersten Blick leichtere Aufgabe ist die Energiepolitik. Das Thema einer gerechten Energiewende ist eng mit dem Klimawandel verknüpft, der sich auch in Mexiko verstärkt bemerkbar macht. In der ersten Jahreshälfte 2024 gab es Hitzerekorde in vielen Landesteilen. Ausbleibende Regenfälle führten zu historischen Tiefständen in Stauseen, zu Ernteeinbrüchen und wachsenden Problemen bei der Trinkwasserversorgung. Drei Viertel des Landes sind von Trockenheit betroffen.

Die anerkannte Wissenschaftlerin Sheinbaum, die einen Doktortitel in Energietechnik und Physik erwarb, wird am ehesten in der Umwelt- und Energiepolitik eigene Akzente setzen (können). Ihr Vorgänger setzte vor allem auf fossile Brennstoffe und die Rettung des staatlichen Ölkonzerns Pemex. Sheinbaum ist gegenüber erneuerbaren Energien aufgeschlossener, betont allerdings zugleich, dass entsprechende Projekte sozialverträglich umgesetzt werden müssten. Denn in der Vergangenheit beraubten beispielsweise groß angelegte Windparks die Bevölkerung ihrer Landrechte. Der produzierte Strom ging an Privatunternehmen, den Gemeinden vor Ort nutzten die erneuerbaren Energien in der Regel nichts. Sollte es der ersten Präsidentin des Landes gelingen, die Klima- und Energiepolitik zugleich umzubauen und sozialverträglich zu gestalten, könnte sie die Zukunft des Landes entscheidend prägen.

Schwieriges Verhältnis zu den USA

In der aktuellen weltpolitischen Gesamtlage verdient Mexiko mit seiner auf mehr soziale Gerechtigkeit und staatliche Gestaltungsmacht ausgerichteten Regierung durchaus Beachtung. Ihre Wiederwahl mit überwältigender Mehrheit belegt, dass Morena in den vergangenen Jahren vieles richtig gemacht hat.

Dennoch setzen die realpolitischen Bedingungen der Gestaltungsmacht Grenzen. So wird die neu gewählte Präsidentin, wie ihr Vorgänger, weiterhin auf die wirtschaftliche Verflechtung mit den USA und ein möglichst konfliktfreies Verhältnis zum großen Nachbarn im Norden setzen. Mexiko ist – noch vor China und Kanada – der wichtigste Handelspartner der USA. Im Zuge des sogenannten Nearshoring siedeln derzeit vermehrt US-Unternehmen und andere internationale Konzerne ihre Produktion im mexikanischen Norden an. Dies fördert kurz- und mittelfristig die makroökonomische Stabilität, doch der offene Ausgang der US-Wahlen im November dieses Jahres bedeutet Ungewissheit für das Verhältnis zum mächtigen Nachbarn.

Besonders brisant ist in diesem Kontext das Thema Migration. Mexiko spielt de facto die Rolle eines Auffanglagers für die USA – und gerät dabei an seine Kapazitätsgrenzen. Allein von Januar bis Mai wurden 1,4 Millionen Migrant*innen registriert, die vor allem aus Venezuela, Honduras, El Salvador, Ecuador und Venezuela kamen. Bislang reagierte Sheinbaum zurückhaltend auf Donald Trumps aggressive Antimigrationsrhetorik, doch sollte er die Wahl gewinnen, wird sie einer Konfrontation kaum ausweichen können.

Die folgenden Monate werden zeigen, ob Sheinbaum gewillt ist, aus dem Schatten ihres Vorgängers herauszutreten. Noch fehlt vielen im Land der Glaube, dass der populäre Amlo sich ab Oktober, wie angekündigt, tatsächlich ins Privatleben zurückziehen wird. Eines jedoch steht fest: Nur wenn die neue Präsidentin die Herausforderungen entschlossen angeht, wird ihre Regierung Erfolg haben können.

Gerold Schmidt leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mexiko-Stadt.

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