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Schweizer Erfolgsfaktor Murat Yakin: Siege durch Kompromisse
Unter den Trainern ist der Schweizer Murat Yakin schon vor dem Viertelfinale ein EM-Gewinner
Bei der Zeitungslektüre muss Murat Yakin selbst ein bisschen schmunzeln. Logischerweise bekommt der Trainer der Schweizer Fußball-Nationalmannschaft mit, welches Lob vor dem EM-Viertelfinale gegen England in Düsseldorf an diesem Sonnabend (18 Uhr/ZDF) auf ihn niederregnet. »Nette Worte sind immer schön zu hören. Wir spielen aber auch gut«, sagt der 49-Jährige, der gerade so viel Zuneigung erfährt wie nie zuvor in seinem vor drei Jahren begonnenen Job.
Klar, auch die zwei Meisterschaften 2013 und 2014 mit seinem Heimatverein FC Basel in der Geburtsstadt waren auch schön, aber die Aussicht auf das erste EM-Halbfinale für die Eidgenossen klingt noch einmal besser. Zumal alles aufgeht, was sich der passionierte Schachspieler an Rochaden derzeit einfallen lässt. Sowohl beim Personal als auch mit seinen Taktiken hat insbesondere dieser ehrenvoll ergraute Fußballlehrer mit jeder bisherigen EM-Überraschung ein goldenes Händchen bewiesen. Nun ist er plötzlich alles auf einmal: Taktikfuchs und Superhirn, Menschenfänger und Publikumsliebling. Yakin ist im allgemeinen Medienecho auf jeden Fall der richtige Mann am richtigen Ort. Und er wird davon angespornt, den Fortschritt des Schweizer Fußballs in Deutschland weiter fortzuführen.
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Nach dem überzeugenden Achtelfinale gegen Titelverteidiger Italien (2:0) in Berlin erklärte Yakin: »Als wir sahen, dass sie mit einer Viererkette kommen, wussten wir: Die machen wir platt.« Ein solches Selbstbewusstsein kehrt nicht mal Granit Xhaka nach außen. Und er ist doch eigentlich das Sprachrohr der »Nati«. Für ein erfolgreiches Turnier braucht es starke Spieler und einen starken Trainer. Da schienen die Eidgenossen zuvor ein bisschen schwach auf der Brust. Die Kritik in der zähen Qualifikation kumulierte, als eben Xhaka nach einem 2:2 gegen das Kosovo im September vergangenen Jahres sagte: »So wie wir heute gespielt haben, sah auch die ganze Woche aus.« Mehr Misstrauen in das Training kann ein Kapitän eigentlich nicht formulieren.
Der Coach tat daraufhin das einzig Richtige: öffentlich nicht sofort widersprechen, sondern hinter den Kulissen die Aussprache suchen. Wie inzwischen beide Seiten bestätigten, habe man in diesem Jahr mehrere Gespräche geführt. Eines im Februar in Düsseldorf, als laut Xhaka bei einem feinen Essen und einem guten Glas Rotwein diskutiert wurde.
Trainer und Taktgeber wussten ohnehin: Der eine kann ohne den anderen nicht erfolgreich sein. Yakin war, obwohl er eine ganz ähnliche Vita mitbringt, ein anderer Spielertyp als Xhaka gewesen: immer mit einem gewissen Hang zur Lässigkeit gesegnet. So hat der ehemalige Bundesligaspieler in Stuttgart und Kaiserslautern die eigenen Grenzen wahrscheinlich nie so komplett ausgereizt, wie es der extrem ehrgeizige Granit Xhaka gerade bei Bayer Leverkusen aufführt. Aber wenn sich unterschiedliche Charaktere auf einen Kompromiss verständigen, kann das die Gemeinschaft befruchten. Es heißt, dass kaum einer ein Spiel so gut lesen kann wie Yakin, was sich auch international herumgesprochen hat.
Zwar ist (noch) nichts von anderen Angeboten bekannt, doch dass der Vertrag des Nationaltrainers nach dem Turnier in Deutschland ausläuft, bringt den Schweizer Fußball-Verband ein bisschen in Zugzwang. »Es gibt keinen Grund, über meine Zukunft zu diskutieren. Das werden wir nach der EM angehen«, beteuerte Yakin gerade wieder am Dienstag. »Wir hatten gute Gespräche. Meine Situation ist jetzt sicherlich angenehmer als vor ein paar Monaten.« Die Verhandlungsposition könnte tatsächlich kaum besser sein.
Wird der Vertrag verlängert, sollte auch unbedingt Co-Trainer Giorgio Contini bleiben, den Yakin bereits aus Luzerner Zeiten kannte: Der 50-Jährige leitet Aufwärmen, Pass- und Spielformen sowie Torabschlüsse beim Training im Stadion auf der Waldau. Am Fuße des Stuttgarter Fernsehturms gefällt sich Yakin in der Rolle des Beobachters, der seinen Assistenten lieber »Partner« nennt. »Wir haben identische Ideen. Für uns ist Giorgio ein Glücksfall, es ist auch ein großes Verdienst von ihm, dass es so gut läuft. Es brauchte auch im Betreuerstab Veränderung«, so Yakin. Beide vertrauen sich mittlerweile fast blind. Das Duo erinnert an Jürgen Klinsmann und Joachim Löw beim deutschen Sommermärchen 2006.
Yakin liegt es fern, vor dem Duell gegen England sein Gegenüber Gareth Southgate in irgendeiner Form geringzuschätzen. Im Gegenteil: Er habe viele Sympathien für den mal wieder viel kritisierten Kollegen. »Wir haben uns schon oft getroffen und verstehen uns gut. Er hat viele gute Spieler, aus denen er auswählen muss. Wenn die Resultate dann nicht stimmen, gibt das Kritik. Ich befand mich auch schon in einer ähnlichen Situation«, so Yakin, der noch einen Tipp für den Engländer parat hat: »Am besten nicht zu viel Zeitung lesen.« Besonders nicht, wenn seine Schweizer die Engländer aus dem Turnier schmeißen sollten.
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