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Wiege der Anti-AKW-Bewegung
Im badischen Wyhl begannen vor 50 Jahren Massenproteste gegen einen geplanten Atommeiler
Wyhl sei ein Fanal gewesen, sagen viele in der Bewegung gegen Atomkraftwerke. Vor 50 Jahren, am 9. Juli 1974, begann in der Turnhalle der badischen Gemeinde der Erörterungstermin zum dort geplanten AKW. Rund 96 000 Menschen aus der Region hatten Einwände gegen den Bau erhoben. Weil sie diese bei der Verhandlung nicht ausreichend berücksichtigt sahen, zogen die AKW-Gegner unter Protest aus der Halle aus. Wenige Tage später beteiligten sich 3000 Menschen an einem Sternmarsch zum geplanten Bauplatz.
Weil die Landesregierung in Stuttgart und der Energiekonzern Badenwerk an ihren Plänen festhalten, wächst der badisch-elsässische Widerstand. Am 18. Februar 1975 stürmen Hunderte Menschen den Bauplatz in Wyhl. Zwei Tage später räumt die Polizei das besetzte Gelände mit Wasserwerfern und Hunden. Doch das entfacht den Zorn der Leute erst recht: Am 23. Februar demonstrieren mehr als 25 000 Menschen gegen Atomkraft und Polizeigewalt, überwinden die Absperrungen und drängen die Beamten zurück. Der Bauplatz bleibt über Monate besetzt.
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Auf dem Gelände entstehen das »Freundschaftshaus« und die »Volkshochschule Wyhler Wald« – Einrichtungen, die den »Mythos von Wyhl« prägen. Nächtelang sitzen Badener und Elsässer, Bäuerinnen und Winzer, Hausfrauen und linke Studenten am Lagerfeuer. Sie diskutieren über die Risiken der Atomkraft, entwerfen Alternativen in der Energieversorgung und Pläne für eine bessere Gesellschaft.
In den 60er und 70er Jahren wollen die damaligen Bundesregierungen am liebsten über einen eigenen nuklearen Kreislauf und damit eine potenzielle Möglichkeit zur Produktion von Atomwaffen zu verfügen. Hunderte Kernkraftwerke sollen gebaut werden, schnelle Brüter Plutonium erzeugen, eine Wiederaufarbeitungsanlage und weitere Fabriken den »nuklearen Brennstoffkreislauf« ergänzen.
Doch die meisten der geplanten Meiler werden nie gebaut. Neue Reaktorlinien wie der Brüter in Kalkar oder der Hochtemperaturreaktor in Hamm scheitern vor oder kurz nach der Inbetriebnahme. Eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage lässt sich weder in Gorleben noch im bayerischen Wackersdorf gegen den teils militanten, überwiegend aber gewaltfreien Widerstand Zehntausender durchsetzen.
Die Strahlkraft der Bewegung in Wyhl ist kaum zu überschätzen. An den Standorten geplanter AKW, aber auch in vielen Städten entstehen Anti-Atom-Initiativen. Die Bewegung wird zur prägenden außerparlamentarischen Oppositionsströmung. Sie wächst schnell und umfasst bald ein Spektrum, das von konservativen Natur- und Lebensschützern über Standortinitiativen bis zur studentischen Linken reicht. Das macht sie stark, aber auch anfällig für Spaltungen.
Solche Spaltungen offenbaren sich erstmals bei den Brokdorf-Protesten. Von einer von den Behörden verbotenen und von Politikern und Medien mit beispielloser Hetze begleiteten Großdemonstration gegen das geplante AKW an der Elbe am 19. Februar 1977 distanzieren sich der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), SPD- sowie DKP-nahe Gruppen. Sie rufen zu einer zeitgleichen Kundgebung in Wilster auf und können dazu rund 20 000 Menschen mobilisieren. Etwa dreimal so viele trotzen dem Verbot, ziehen bei eisiger Kälte durch die Marsch und machen erst kurz vor dem AKW an einer von der Polizei errichteten Sperre halt.
Erst die Besetzung der Tiefbohrstelle 1004 im Gorlebener Wald im Mai 1980, der Aufbau eines Hüttendorfes und die Ausrufung der »Republik Freies Wendland« führt die Bewegung wieder zusammen. Ihre Erfolge überwiegen: Sie deckt Skandale um verstrahlte Atommüllbehälter und das marode Atomlager Asse auf. Sie stößt den Ausbau der erneuerbaren Energien an. Ein besonders großer Erfolg: Im September 2020 fliegt der Salzstock Gorleben aus dem Suchverfahren für ein atomares Endlager.
Ihre radikale Gesellschaftskritik, ihre Offenheit für Utopien und nicht zuletzt ihre Bündnisfähigkeit und enge Verbindung mit anderen emanzipatorischen Gruppen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Bewegung erfolgreich war. Durch ihre Spontaneität und Kreativität war sie auch kulturell attraktiv. Theater und Musik begleiteten fast jede Aktion.
Die Erfolge haben viele Aktive nicht nur mit kalten Hintern in Polizeikesseln und auf Castor-Transportstrecken bezahlt. Kriminalisierung und Polizeigewalt begleiteten den Widerstand gegen Atomanlagen, der teilweise auch als Widerstand gegen das kapitalistische System verstanden wird, von Beginn an. Tausende AKW-Gegner wurden vor, bei und nach Demonstrationen verhaftet, viele zu Geld- oder Gefängnisstrafen verurteilt. Allein 1986, als die Bewegung infolge des Super-GAUs im sowjetischen AKW Tschernobyl viel Zulauf erfuhr, liefen 5000 bis 6000 Straf- und Ermittlungsverfahren.
Im Zuge der Kämpfe gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf waren auch Tote zu beklagen: Erna Sielka und Alois Sonnleitner starben bei Demonstrationen. Der Polizist Johann Hirschberger kam ums Leben, als ein Hubschrauber, der Atomkraftgegner verfolgte, mit einem Triebwagen zusammenstieß.
Das AKW Wyhl wurde nie gebaut. Infolge der Platzbesetzung kam es zunächst zu einem Stillhalteabkommen zwischen Bürgerinitiativen und Landesregierung. Neue Gutachten wurden erstellt. Es folgten langwierige Gerichtsverfahren, die 1982 den Weg für einen Bau frei machten. Doch Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) wollte keine Konfrontation und nahm das Thema endgültig von der politischen Tagesordnung. Die Energiewirtschaft gab 1994 die Baugenehmigung für ein AKW in Wyhl an die Landesregierung zurück. Am Rande des einstigen Bauplatzes liegt heutzutage ein großer Findling. »Nai hämmer gsait«, steht darauf: »Nein haben wir gesagt.«
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