Auslandsjournalismus: »Wir müssen verstehen, was los ist«

Was bedeutet Auslandsjournalismus in einer multipolaren Welt? Ein Gespräch mit der Kenia-Korrespondentin Bettina Rühl vom Netzwerk Weltreporter

  • Interview: Martin Ling
  • Lesedauer: 6 Min.
Wie hat sich Kenia verändert? Eine Erinnerung an die Menschen, die bei den Protesten gegen die Steuerpolitik starben, vergangene Woche
Wie hat sich Kenia verändert? Eine Erinnerung an die Menschen, die bei den Protesten gegen die Steuerpolitik starben, vergangene Woche

Die Weltreporter, das größte Netzwerk freier, deutschsprachiger Auslandskorrespondent*innen, die aus mehr als 160 Ländern berichten, wird 20 Jahre alt. Sie sind aktuell die Vorsitzende und Korrespondentin in Nairobi. Vor zwei Jahrzehnten gab es zwar schon Internet, aber die Digitalisierung im Journalismus steckte noch in den Kinderschuhen. Wie hat sich Ihre Arbeit seitdem verändert?

Das eine ist die Kommunikation. Die ist viel einfacher geworden. Früher musste ich Tage darauf verwenden, um mich mit Gesprächspartnern in Afrika zu verabreden, heute geht das über digitale Messenger (Kurznachrichtendienste, Red.) viel schneller. Fast jeder hat heute in Afrika ein Handy oder sogar ein Smartphone, was auch für Nachfragen, die einem beim Schreiben kommen, nützlich ist. Die digitale Kommunikation hat vieles erleichtert und macht es möglich, viel mehr Menschen zu Wort kommen zu lassen, als das früher der Fall war. Auch bei der Übermittlung von Beiträgen nach Deutschland ist die digitale Kommunikation sehr hilfreich. Vor 20 Jahren passierte das teils noch per Fax – und es gab wenig Faxgeräte. Das läuft jetzt alles digital und schnell. Das andere ist, dass die Menschen in Afrika jetzt viel besser mitbekommen, was über ihre Länder international so berichtet wird. Das gilt vor allem für die britische BBC und das französische Radio France International, wegen der Sprachbarriere weniger für deutsche Medien. Da fragen sich manche Gesprächspartner, ob es sich überhaupt lohnt, deutschen Medien Interviews zu geben, wenn sie es danach nicht selbst lesen können und die Berichte in ihren Ländern nicht viel Wirkung haben. Auf alle Fälle muss man sich bei Texten, die online publiziert werden, der gewachsenen Verantwortung bewusst sein, was Quellenschutz für kritische Stimmen und Fotos angeht. Denn Online-Texte haben potenziell eine viel größere Reichweite, als ein »nur« in einer Zeitung gedruckter Text.

Interview

Bettina Rühl ist Vorsitzende von Weltreporter.net, einem Netzwerk von Auslandskorrespondentinnen und -korrespondenten. Seit drei Jahrzehnten berichtet sie aus und über Afrika, seit 2011 lebt sie in Kenia. Am 13. Juli feiert das Netzwerk seinen 20. Geburtstag in Berlin. Interessierte sind willkommen.
Hier geht es zum Programm:
https://weltreporter.net/was-interessiert-uns-die-welt-20-jahre-weltreporter/
Und hier geht es zum Anmeldelink:
https://www.eventbrite.com/e/was-interessiert-uns-die-welt-20-jahre-weltreporter-tickets-858107762417

Die digitale Kommunikation erleichtert das journalistische Arbeiten. Was aber ist mit den sinkenden Budgets und den sinkenden Auflagen der Zeitungen? Sinken auch die Aufträge?

Im Allgemeinen ja. Ich selbst bin schon etwas länger im Geschäft und habe es mit langjährigen Abnehmern sicher leichter als Neueinsteiger. Ich habe das Glück, dass ich immer noch längere Dokumentationen für den Rundfunk produzieren kann. Aber auch dort sind aufgrund der Sparzwänge viele Sendeplätze gestrichen worden. Und wenn alle Beiträge online stehen, hat man eher das Gefühl von Dopplungen. Früher hat es zum Beispiel den Bayerischen Rundfunk wenig interessiert, ob dasselbe Thema beim Norddeutschen Rundfunk gelaufen ist. Jetzt steht alles in der Mediathek, und es wird stärker auf Alleinstellung geachtet. Auch, weil die Budgets gedeckelt sind. Da werden dann oft lieber die angestellten Korrespondenten mit einem Thema beauftragt als wir Freien, denn wir kosten zusätzliches Geld. Das Interesse für Themen ist meiner Erfahrung nach durchaus noch da. Aber die Bereitschaft, Kosten für Reisen, für Visa und so weiter so zu übernehmen, ist wegen sinkender Budgets nur noch begrenzt vorhanden – wenn überhaupt. Auch festangestellte Korrespondenten müssen ihre Reisekosten jetzt stärker rechtfertigen. Das führt insgesamt dazu, dass Vorort-Berichterstattung seltener wird, weil es billiger ist und schneller geht, eine Geschichte am Schreibtisch zu schreiben. Ein anderes Problem ist die Verlagskonzentration. Früher waren viele Journalisten mit einem Bauchladen an Abnehmern unterwegs. Der Bauchladen ist kleiner geworden, weil inzwischen große Verlage viele Zeitungen geschluckt haben und so aus potenziell vielen Abnehmern oft nur noch ein Verlag als Abnehmer geblieben ist.

Welche Themen waren vor 20 Jahren in Kenia relevant, welche sind es heute?

Vor 20 Jahren gab es in vielen afrikanischen Ländern eine Aufbruchstimmung mit dem Übergang zu Mehrparteiensystemen. In Kenia folgte 2002 Mwai Kibaki, der für eine sogenannte Regenbogenkoalition angetreten war, auf den seit 1978 amtierenden Langzeit-Präsidenten Daniel arap Moi. Nach Kibakis umstrittener Wiederwahl 2007 kam es entlang ethnischer Linien fast zum Bürgerkrieg. Ganz anders die Proteste, die in den vergangenen Wochen internationale Schlagzeilen gemacht haben. Jetzt gingen die Menschen gegen Steuererhöhungen von Präsident William Ruto auf die Straße. Interessant ist, dass die Ethnizität 2024 keine Rolle spielt. Diesmal gehen junge, häufig gut ausgebildete Menschen aus allen ethnischen Gruppen gemeinsam gegen die Regierung auf die Straße. Dass Kenias Bildungsniveau gestiegen ist, ist sicher auch eine Folge der von Kibaki wiedereingeführten kostenlosen Grundschulbildung. Die Regierung war genötigt, auf die Proteste zu reagieren, hat die Steuererhöhung kassiert und hat sich darauf einlassen müssen, die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land zu diskutieren. Obwohl die Demonstranten jung, gebildet und technikaffin sind, sind viele von ihnen trotzdem arm, weil die Arbeitslosigkeit in den jüngeren Altersgruppen sehr hoch ist. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Menschen in der Kürze der Meldungen keine Vorstellung davon bekommen können, wie sich das Gesicht der Armut in Kenia in den vergangenen Jahren verändert hat. Vermutlich verbinden viele mit »Armut in Afrika« oder Kenia etwas anderes als eine junge, akademische Elite, die arbeitslos und deshalb trotzdem arm ist. Solche Differenzierungen finden nur selten den Weg in die Berichterstattung.

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Inzwischen ist mit dem Abflauen der Proteste die Berichterstattung über Kenia wieder nahe null.

Tatsächlich. Ich würde mir wünschen, dass eine kontinuierliche Auslandsberichterstattung dazu beiträgt, dass das deutsche Publikum nicht so überrascht ist über Entwicklungen in afrikanischen Ländern, sondern darauf vorbereitet ist. Zuletzt schien mir die deutsche Öffentlichkeit öfters von den Geschehnissen überrumpelt. Zum Beispiel davon, dass die malische Regierung den Abzug der Uno und damit auch der Bundeswehr aus Mali forderte. Oder auch von dem Putsch in Niger, das Land galt ja als letzte Bastion der Demokratie. Vom Krieg im Sudan, den Protesten in Kenia. Denn die Medien werfen zu oft nur Schlaglichter auf die Krisen. Die Vor- und Nachberichterstattung, die es dem Publikum ermöglichen würde, die Krisen und ihre Entstehung einzuordnen, fehlt leider viel zu oft.

Was könnte und sollte die Rolle der Auslandsberichterstattung sein – in einer Welt, in der es immer mehr Perspektiven auf das Weltgeschehen gibt und Falschmeldungen an Einfluss gewinnen?

Aus meiner Sicht hat die Auslandsberichterstattung gerade jetzt eine immense Bedeutung. Sie kann die Perspektiven der »Anderen« in einer multipolaren Welt erklären und verstehen helfen. Die Menschen würden dann von Entwicklungen weniger überrascht, wären nicht so ratlos. Dabei stellt sich natürlich die Frage nach der Finanzierung. Angesichts der Bedeutung der Auslandsberichterstattung für das Verstehen der globalen Entwicklungen sollte sie als öffentliches Gut verstanden werden, für das neue Finanzierungsmodelle gefunden werden müssten. Eine Berichterstattung aus dem Ausland, die dortige Entwicklungen früh erkennt und dem hiesigen Publikum nahebringt, ist aus meiner Sicht fundamental wichtig für unsere Demokratie. In einer globalisierten Welt müssen wir verstehen können, was in der Welt los ist. Dass immer mehr Falschmeldungen zirkulieren, macht das nicht leichter. Als Journalisten haben wir die klassische Aufgabe und Kompetenz, Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Das wird immer wichtiger, aber wir müssen neue Werkzeuge dafür lernen. Die derzeitige Tendenz, immer weiter an der Auslandsberichterstattung zu sparen, geht auf Kosten der Aufklärung und damit der Demokratie.

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