- Politik
- Auslieferung
Ecevit Piroğlu: Kafkaeskes Schauspiel um Aktivisten aus Türkei
Der kommunistische Aktivist wird nach jahrelanger Haft nicht an die Türkei ausgeliefert, sitzt aber in Belgrad fest
Die Hängepartie um das Schicksal von Ecevit Piroğlu geht weiter. Am Dienstag wurde der aus der Türkei stammende Kommunist, der von Ankara wegen angeblicher Terrorismusunterstützung gesucht wird, aus serbischer Haft entlassen. Doch obwohl die Behörden Piroğlus Anwalt, Milan Vuković, mitteilten, dass der Aktivist Serbien so schnell wie möglich zu verlassen habe, kann Piroğlu nicht.
Piroğlu will nach Brasilien, für das er kein Visum benötigt und das nicht an die Türkei ausliefert. Die ersten drei Ausreiseversuche scheiterten aber, weil ihm die Schweiz und Spanien das Transitvisum verweigerten.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Wichtiger politischer Aktivist
Seit über zwei Jahrzehnten gehört Piroğlu zu den wichtigsten politischen Aktivisten in der Türkei. »Ich habe mein Leben lang für Freiheit der Völker, darunter die Kurden, Jesiden und viele andere in der Region gekämpft«, sagt er im »nd«-Gespräch direkt nach seiner Freilassung.
2013 engagierte sich Piroğlu bei den Gezi-Park-Protesten, ging danach nach Syrien und wurde in Rojava Kommandeur der linken Kräfte, die dort den Islamischen Staat bekämpften, zeichnet sein Cousin Mustafa Bagcicek den Weg des Aktivisten im Gespräch nach.
Vor drei Jahren die Verhaftung am Flughafen Belgrad bei der Durchreise. Was Piroğlu nicht wusste: Die Türkei hatte ihn auf die Fahndungsliste von Interpol gesetzt. »Ich war zuvor in den Irak und nach Dubai geflogen, da gab es keine Probleme für mich«, sagt Piroğlu zu »nd«.
Verhaftung auf der Durchreise
Seitdem verbrachte er die meiste Zeit in Haft, unter ständiger Drohung, ausgeliefert zu werden. Bis zum ersten Prozess verging ein Jahr, in dem Piroğlu zum ersten Mal für 136 Tage in den Hungerstreik trat, ohne Nahrung, aber mit Flüssigkeiten mit Salz und Vitaminen. Viermal beantragte der Aktivist politisches Asyl, jedes Mal wurde es abgelehnt. Im Sommer 2023 entschied das Gericht in zweiter Instanz schließlich, dass Piroğlu nicht in die Türkei ausgeliefert werden darf.
Eigentlich eine gute Nachricht, denn in der Türkei droht Piroğlu eine »riesige Gefahr«, befürchtet Bagcicek: »Im besten Fall bekommt er lebenslange Haft, aber wahrscheinlich wird er vom Staat getötet.« Doch statt auf freien Fuß zu kommen, brachte man Piroğlu in eine geschlossene Auslieferungsanstalt, erzählt der Cousin: »Das war kein offenes Asylheim, sondern eine geschlossene Anstalt.« Die Behörden hätten einen Grund gesucht, ihn wieder einzusperren und die Administrativhaft gefunden, ist Bagcicek überzeugt. »Du darfst zwar nicht in die Türkei, aber du bist hier illegal und daher musst du eingesperrt werden.«
Isolationshaft und Hungerstreiks
23 Stunden am Tag verbrachte Piroğlu in der Auslieferungsanstalt in Isolationshaft. Nach serbischem Recht dürfen Menschen 180 Tage in solchen Lagern festgehalten werden. Nur drei Tage nach der Entlassung im Februar 2024 wurde Piroğlu erneut verhaftet und in das Lager gebracht. »Abermals 180 Tage, in denen er erneut für 136 Tage in den Hungerstreik trat«, sagt Bagcicek.
Am Montag endete die 180-Tage-Frist. Seinen Hungerstreik beendete Piroğlu bereits am 26. Juni, um für den Zeitpunkt seiner Entlassung wieder Kräfte sammeln zu können: »30 Kilogramm hatte ich verloren. Ich wog nur noch 43 Kilogramm, jetzt habe wieder 48«, erzählt Piroğlu.
Internationale Delegation kämpft für endgültige Freilassung
Um seine endgültige Freilassung zu garantieren, reiste Anfang dieser Woche eine internationale Delegation nach Belgrad, darunter der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (BSW) und der Anwalt Roland Meister.
Auf einer Pressekonferenz kritisierte Hunko die Interpol-Zusammenarbeit. Später traf er sich mit Serbiens Innenminister Ivica Dačić, um den Fall zu besprechen.
Seitdem hat sich um Piroğlu ein kafkaeskes Schauspiel entwickelt. Am Montagnachmittag wurden er und sein Anwalt informiert, Piroğlu würde am nächsten Morgen aus dem Krankenhaus Pančevo entlassen werden, wo er sich aufgrund seines Gesundheitszustandes in Polizeigewahrsam befand. Doch stattdessen wurde er vom Krankenhaus direkt in ein Flüchtlingslager außerhalb von Belgrad gebracht.
Swiss lässt Piroğlu nicht an Bord
Erst am Nachmittag konnte ihn sein Anwalt dann von einer Polizeistation abholen. Ihm wurde gesagt, er solle das Land »noch heute Abend verlassen«, dann würde Serbien den Interpol-Haftbefehl nicht umsetzen, erzählt Vuković.
Doch für den Flug über die Schweiz nach Brasilien war es zu spät. Beim nächsten Versuch am Mittwochmorgen ließ die Airline Swiss Piroğlu wegen des fehlenden Transitvisums nicht an Bord.
Frei, aber nicht sicher
Entgegen ursprünglicher Versprechen stellte ihm auch Spanien kein Transitvisum aus. Direktflüge aus Belgrad in sichere Länder aber gibt es nicht und so heißt es für Piroğlu weiter warten. Auf Schritt und Tritt in Serbien vom dortigen Geheimdienst verfolgt, steigt der türkische Druck auf Belgrad, Piroğlu doch auszuliefern: »Es gibt starke wirtschaftliche Interessen, die eine Rolle spielen«, erklärt Hunko.
Jeder weitere Tag in Serbien ist eine Gefahr für Piroğlus Freiheit. Seine Unterstützer in Europa kämpfen weiter, um doch noch ein humanitäres Visum für die Durchreise zu bekommen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.