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Wohnen mit gemeinsamer Kasse: »Ein kollektiver Topf voll Geld«

Alex Schneider* lebt seit 18 Jahren in einem Wohnprojekt, dessen Mitglieder ihre unterschiedlich hohen Einkünfte solidarisch teilen

  • Interview: Niels Seibert
  • Lesedauer: 6 Min.
Hausprojekt: Wohnen mit gemeinsamer Kasse: »Ein kollektiver Topf voll Geld«

Sie haben mit ihren Mitbewohner*innen eine gemeinsame Kasse. Wie muss ich mir das konkret vorstellen?

Die Grundidee ist, dass wir alle unser Einkommen in einen imaginären Topf geben und jede Person sich daraus das Geld nehmen kann, das sie für ihre Lebensgestaltung ausgeben will. Es gibt in der Gruppe kein umfassendes Reglement, wofür wie viel Geld ausgegeben werden kann: jede Person entscheidet selber, was eine angemessene Ausgabe ist.

Wie lange funktioniert das schon?

Seit 2006 gibt es das Haus, in dem wir wohnen. Wir sind elf Personen in vier Haushalten, die diese gemeinsame Kasse haben. Schon vorher gab es einen Kern dieser Gruppe, die das Prinzip mit anderen während ihrer Uni-Zeit etabliert haben und auch viel Erfahrung mitgebracht haben. Ein Anlass waren Diskussionen, wie sich linke Positionen, die einer solidarischen Gesellschaft, in der geteilt und nicht getauscht wird, nicht nur in Aktivismus, sondern auch im eigenen Alltag niederschlagen könnten.

Haben Sie, wenn Sie Ihre Einkünfte zusammenwerfen, noch privat Geld?

Nein, aber wir haben alle einen Teil des gemeinsamen Geldes auf einem persönlichen Konto. Dass mehrere Leute ein gemeinsames Konto haben, ist von Seiten der Banken recht kompliziert, da müssten ja elf Leute jeweils eine Bankkarte vom selben Konto haben. Auch Arbeitgeber*innen fanden es teilweise merkwürdig, unser Gehalt auf das Konto einer anderen Person zu überweisen. Das ersparen wir uns so alles.

Interview


Alex Schneider (Name geändert), 47 Jahre alt, lebt mit elf Personen, die sich sämtliche ihrer Einkünfte teilen, in einem Berliner Hausprojekt. Der studierte Geograf ist freier Autor und gehört zu den gering Entlohnten in der Wohngemeinschaft.

Wie läuft das mit dem imaginären Geldtopf in der Realität?

Wenn bei einer Person Bedarf besteht, ihr privates Geld nicht mehr ausreicht, gibt es einen Transfer. Und es gibt eine allgemeine Barkasse, damit wird vor allem eingekauft, aber ich könnte da auch 300 Euro rausnehmen und mir zum Beispiel ein neues privates Telefon kaufen. Dann würde ich gleich Bescheid sagen, dass die Kasse früher wieder befüllt werden muss. Das machen natürlich in der Regel die Personen mit mehr Geld. Das erleichtert den Alltag sehr, da wir nie Abrechnungen oder dergleichen machen müssen. Jedes Jahr machen wir einen Kassensturz, dass wir auch wissen, wo wir ungefähr stehen, ob unsere Ausgaben und unsere Einnahmen in einem vernünftigen Rahmen sind.

Wie funktioniert der Transfer? Stellen die Bewohner*innen mit wenig Geld einen Antrag?

Nee, die sagen eigentlich nur einer Person mit mehr Geld Bescheid. Die Person, die ich zuerst treffe, frage ich. Das läuft dann von Person zu Person, da gibt es keinen formalen Gruppenprozess. Über größere Anschaffungen sprechen wir schon, aber nicht wegen einer nötigen Erlaubnis, sondern um die Meinungen der anderen zu hören.

Ich stelle es mir schwer vor, eine Person anzusprechen: Du, gib mir mal Geld.

Ja, vor allem, wenn man damit neu anfängt, gibt es das emotionale Problem, weil man ja, so wie man erzogen ist, es noch ein bisschen komisch findet, jemanden nach Geld zu fragen. Dann muss man sich, wenn man in der Position ist, wenig Geld zu haben, überwinden, überhaupt zu fragen. Weil wir das schon eine Weile machen, gibt es relativ etablierte Wege und soweit ich das beurteilen kann, eigentlich keine großen Schwellen mehr, sich zu melden und zu sagen: »Jetzt brauche ich dieses oder jenes Geld« oder »Mach mal die Barkasse wieder voll.«

Wie oft kommt es vor, dass jemand sagt, ich möchte jetzt eine private Anschaffung machen, kannst du mir Geld geben?

Die Ansprache, »Gib mal Geld« gibt es gar nicht so oft, einmal im Jahr oder einmal im halben Jahr. Häufiger ist die Barkasse leer.

Unter Ihnen gibt es Geringverdiener*innen und Besserverdiener*innen. Welche konkreten Berufe sind darunter?

Es gibt Bürgergeldempfänger*innen und es gibt Professor*innen. Das spannt unser Spektrum ungefähr auf. Viele arbeiten in akademischen Berufen, ein paar machen handwerkliche Jobs, andere dies und das.

Warum beteiligt sich ein*e Besserentlohnt*er an so einer Kasse?

Na, aus politischer Überzeugung. Warum soll wer mehr verdienen und wer anders weniger? Wenn man sich Verdienststrukturen in unserer Gesellschaft anguckt, dann sieht man ja, das sich die Lohnhöhe nicht an Leistung, Anstrengung oder was auch immer orientiert. Mit dieser Grundüberlegung versuchen wir unser Leben so zu führen, dass wir die Dinge machen, die wir machen wollen. Jetzt fügt es sich aber so, dass die eine Person auf diesem Weg einen Karrierepfad zur Professor*in und einem guten Gehalt hingelegt hat und eine andere Person hat einen Pfad zur freien Autor*in eingeschlagen und kommt gerade mal so über die Runden. Beide machen das, was sie machen wollen, haben aber sehr unterschiedliche Einkommen. Und wenn man sich zusammentut, können trotzdem beide ihren Bedürfnissen nachgehen und demnach auch ihr Leben gestalten. Das ist die ganz banale politische Idee dahinter.

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»Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Das klingt ja wie Kommunismus.

Na ja, ich würde nicht so weit gehen, weil wir uns ja keine Produktionsmittel aneignen. Und wir gehören alle zur akademischen Mittelschicht, nicht unbedingt von der Herkunft her, aber von unseren Lebenswegen. Wir hatten alle gute Bildungs- und Berufschancen, sind mittlerweile fast alle über 40. Ich wäre also vorsichtig mit so allzu großen Lorbeeren.

Denken Sie auch schon an die Rente?

Wir haben vor, unsere Kasse für immer beizubehalten. Wenn wir alle Rentner*innen sind, haben wir insgesamt weniger zur Verfügung, wie andere Rentner*innen auch. Wir haben es nicht durchgerechnet, aber ich würde denken, wir passen dann unseren Lebensstil an. Wenn wir Glück haben, kommen ein paar Leute hinzu, die ein bisschen jünger sind und noch Einkommen haben.

Hat Ihr Konzept in den letzten Jahren personellen Zuwachs erhalten?

Unsere Personenzahl ist weitgehend stabil, wenn es auch einzelne Bewegungen gab. Eine Person ist mal aus dem Haus ausgezogen und wollte dauerhaft etwas anderes machen. Dann sind neue Personen eingezogen und auch mit in die Kasse eingestiegen.

Sieht der Staat für Ihr Konzept Regelungen vor oder stoßen Sie auf behördliche Hürden? Wie gehen Sie damit um?

So ein gemeinsames Wirtschaften und solidarisch miteinander Leben ist rechtlich nur für Eheleute oder unverheiratete Paare vorgesehen, für größere Gruppen ist das nicht vorgesehen. Wir gucken, was geht und was nicht geht und finden dann entsprechende Lösungen. Im Alltag kann man das überwiegend entspannt regeln.

Also jede*r macht eine eigene Steuererklärung und dem Jobcenter wird nicht verraten, dass alle Einkommen in eine gemeinsame Kasse gehen?

Ja, deswegen wollen wir auch lieber anonym bleiben. Würde es der Staat darauf ankommen lassen und gucken wollen, ob wir uns manchmal privat zu viel Geld schenken, dann könnte das sanktioniert werden. Aber wie gesagt, im Alltag ist das unproblematisch. Das lässt sich alles lösen. Und auf der anderen Seite ersparen wir uns Geldsorgen, mühsame Abrechnungen und fühlen uns ein bisschen solidarischer miteinander als ohne gemeinsame Kasse.

*Name geändert

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