Buenos Aires: Keine Gerechtigkeit für die Terroropfer

Die Angehörige Laura Ginsberg über den schwersten Bombenanschlag in Argentinien vor 30 Jahren

  • Interview: Jürgen Vogt
  • Lesedauer: 5 Min.
Am 18. Juli wird in Buenos Aires regelmäßig der Toten des Anschlages auf das Gebäude der jüdischen Hilfsoganisation AMIA gedacht, dem 1994 an besagtem Tag 85 Menschen zum Opfer fielen.
Am 18. Juli wird in Buenos Aires regelmäßig der Toten des Anschlages auf das Gebäude der jüdischen Hilfsoganisation AMIA gedacht, dem 1994 an besagtem Tag 85 Menschen zum Opfer fielen.

Frau Ginsberg, wir wissen, dass bei dem Anschlag auf das Gebäude der jüdischen Hilfsorganisation Amia vor 30 Jahren 85 Menschen getötet wurden, darunter auch ihr Mann, und dass über 300 Menschen verletzt wurden. Und wir wissen, dass unmittelbar nach dem Anschlag die Meinungen über das Wer, Wie und Warum auseinandergingen.

Ja, all das spiegelt sich in den 30 Jahren seit dem Anschlag wider. Ich weiß nicht, wer letztlich den Auslöser der Bombe betätigt hat. Wir, die Familienangehörigen der Opfer, wollen verstehen, was passiert ist und in welchem Kontext es möglich war, dass eine zweite Bombe in Buenos Aires explodieren konnte.

Die erste Bombe war zwei Jahre vorher in der israelischen Botschaft in Buenos Aires explodiert. Dabei waren 29 Menschen getötet worden. Wie war die Situation danach?

Der Anschlag auf die israelische Botschaft wurde als antijüdischer Angriff begriffen. Da aber Botschaften symbolisch zu einem anderen Land gehören, kam es vielen so vor, als handelte es sich um eine Tat, die ganz woanders und nicht in Buenos Aires stattfand. Als zwei Jahre später die Amia in die Luft gesprengt wurde, war das komplett anders. Es war klar, dass es sich um einen antijüdischen Anschlag handelte, aber er hatte eine nationale Dimension.

INTERVIEW

Laura Ginsberg ist Mitglied von Apemia, der Gruppe zur Aufklärung des ungesühnten Bombenanschlags auf das Gebäude der jüdischen Hilfsorganisation Amia im Zentrum von Buenos Aires, das sich am 18. Juli zum 30. Mal jährt. Es handelt sich um den blutigsten Terroranschlag, der jemals in Argentinien verübt wurde. Bislang hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt und niemand wurde dafür verurteilt. Ginsbergs Mann gehörte zu den Opfern.

Warum zweifeln Sie daran, dass ausländische Drahtzieher hinter den Anschlägen stecken?

Es gibt keine Beweise für die Behauptung, dass der Iran, Syrien, die Hisbollah, der Libanon oder Pakistan für den Anschlag verantwortlich sind. Ich nenne ein Beispiel. Im Jahr 2003 wurde der von Interpol mit Haftbefehl gesuchte Iraner Soleiman Pur in England wegen seiner angeblichen Beteiligung an dem Anschlag festgenommen. Soleiman Pur war der iranische Botschafter in Argentinien, als der Anschlag verübt wurde. England forderte von der argentinischen Regierung Beweise für eine mögliche Auslieferung. Alles, was Buenos Aires schickte, führte jedoch nicht nur dazu, dass Soleiman Pur freigelassen werden musste, sondern auch dazu, dass Argentinien ihm eine Entschädigung zahlen musste.

Warum wird immer der Iran als Verantwortlicher genannt?

Alle Anschuldigungen gegen den Iran und die Hisbollah kamen aus dem Ausland. Die gegen den Iran kamen ganz schnell aus dem Mund des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin und seines Außenministers Schimon Peres. Beide beharrten darauf, dass die Bombe von den Iranern gelegt wurde. Auf dieser Grundlage wurde das Narrativ aufgebaut, das den Iran zum Drahtzieher des Anschlags erklärte. In Argentinien wurde dies in den ersten Wochen gar nicht auf diese Weise erklärt.

Wen halten Sie stattdessen für verantwortlich?

Den argentinischen Staat. Es gab nie eine echte Untersuchung. Stattdessen wurde die ganze Kraft des Staatsapparates eingesetzt, um genau das zu verhindern. Die Ermittlungen wurden in falsche Bahnen gelenkt. Es wurden Versionen in Umlauf gebracht und Anschuldigungen erhoben, mit denen Anklagen konstruiert wurden, für die bis heute keine Beweise vorgelegt werden konnten. Wir haben das schon 1997 bei der Gedenkveranstaltung zum dritten Jahrestag angeprangert. Damals waren wir noch eine Gruppe, und wir waren uns alle einig. In unserer Erklärung wiesen wir auf die Verantwortung der nationalen Regierung hin und beschuldigten öffentlich den damaligen Präsidenten Carlos Menem, den zuständigen Ermittlungsrichter und die Polizei der Provinz Buenos Aires der Vertuschung. Das löste ein großes Medienecho aus. Daraufhin begannen die Regierung sowie die Führungsgremien der Amia und des jüdischen Dachverbands Daia, die Gruppe der Familienangehörigen zu spalten. Das ist ihnen auch gelungen. Heutzutage gibt es Apemia, die Gruppe Memoria Activa und eine Gruppe, die der Amia und der Daia nahesteht.

Wodurch unterscheidet sich Apemia von den anderen Gruppen?

Wir können von einem Staat, der für die Vertuschung verantwortlich ist, keine Gerechtigkeit und Aufklärung erwarten. Vor wenigen Wochen hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte unsere Auffassung bestätigt. In einem Urteil stellte der Gerichtshof fest, dass der argentinische Staat seine Institutionen zur Vertuschung einsetzte und Ermittlungen vorsätzlich in die Irre führte, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Das Urteil ist immens wichtig, denn nun sind es nicht mehr nur wir, die dies anprangern, sondern ein internationales Gericht hat es bestätigt.

Das Gericht hat den argentinischen Staat außerdem angewiesen, alle Hindernisse zu beseitigen, die einer Aufklärung im Wege stehen, was vor allem die Öffnung der Geheimdienstarchive bedeutet.

In den vergangenen Jahren hat es bereits eine Reihe von Erlassen zur Öffnung von Archiven gegeben, die sich mit der Deklassifizierung befassen. Deklassifizierung ist ein Begriff, der in der nationalen Geheimdienstgesetzgebung verwendet wird. Das bedeutet in der Regel, dass die Dokumente zwar deklassifiziert, aber nicht zugänglich sind. Nach einem harten Kampf ist es uns vor zwei Jahren endlich gelungen, Zugang zu einem wichtigen Teil des Archivs des Geheimdienstes zu erhalten. Es handelt sich um ein riesiges und umfangreiches Archiv.

Kann nach dem Urteil mit einer Aufklärung gerechnet werden?

In dem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist nur von der Gewährung des Zugangs die Rede, nicht aber von einem allgemeinen Zugang ohne jegliche Einschränkungen. Das bedeutet, wir können jetzt vieles einsehen und lesen, aber wir dürfen nicht sagen, was da steht, denn das verbietet weiterhin das Geheimdienstgesetz. Wir können Schlussfolgerungen ziehen und diese weitergeben, aber wir dürfen Ross und Reiter nicht nennen.

Präsident Javier Milei hat gerade eine Gesetzesinitiative angekündigt, die es ermöglichen soll, mutmaßliche Straftäter in Abwesenheit zu verurteilen. Dies betrifft in erster Linie die Iraner, die des Anschlags beschuldigt werden.

Das ist alles nur Zirkus, mit dem das offizielle Narrativ untermauert werden soll. Wir fordern seit vielen Jahren eine Untersuchungskommission mit anerkannten Persönlichkeiten etwa aus der Menschenrechtsbewegung und Kongressabgeordneten. Die Kommission muss uneingeschränkten Zugang zu den Geheimarchiven haben. Sie soll herausfinden, was passiert ist, in welchem Kontext es passiert ist und welche Verantwortung der argentinische Staat trägt. Dann kann auch die Frage nach dem Motiv beantwortet werden.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -