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Italien: Mimmo Lucanos Rückkehr
Der frühere Bürgermeister des kalabrischen Dorfes Riace ist wieder im Amt – und er zieht ins EU-Parlament ein
Domenico Lucano ist zurück auf der politischen Bühne. In dieser Woche hielt das Europaparlament seine konstituierende Sitzung in Straßburg ab, und Lucano war unter den neu gewählten Abgeordneten. Auf der Liste der italienischen Alleanza Verdi e Sinistra (Grün-Linke Allianz) zog der 66-Jährige ins Parlament ein.
Lucano, genannt Mimmo, kümmerte sich in dem kalabrischen Dorf Riace seit 1998 um die Aufnahme von Geflüchteten. Der Ort war vom Aussterben durch Abwanderung bedroht und blühte durch den Zuzug überwiegend junger Menschen auf. Gemeinsam mit Einheimischen arbeiteten sie in Werkstätten mit alter Handwerkskunst aus aller Welt und in kleinen Läden. 2004 wurde Lucano zum ersten Mal als Bürgermeister gewählt, als Kandidat der Liste »Ein anderes Riace ist möglich«, deren Name von den Weltsozialforen inspiriert war. Immer mehr Geflüchtete kamen, finanziert durch Fördermittel für die Aufnahme. Riace galt als Gegenentwurf zu menschenunwürdigen Lagern und zur Ausbeutung in der Landwirtschaft. Als Willkommensdorf wurde Riace weltberühmt und Lucano mit vielen Preisen geehrt.
Kirsten Müller-von der Heyden organisiert die Filmreihe »Solidarität mit Mimmo Lucano und Riace. Widerstand – es wird gerettet. Punkt. .
Dienstag, 23. Juli: »Un Paese de Resistencia« (Ein Land des Widerstands, 2024) von Shu Aiello und Catherine Catella (Regie) und Serena Gramizzi (Produktion). Der Dokumentarfilm zeigt das Wunder von Riace, die Repression und den Widerstand dagegen. Im anschließenden Filmgespräch mit Kirsten Müller-von der Heyden gibt es die Gelegenheit, Neuigkeiten aus Riace zu erfahren.
Dienstag, 30. Juli: »Un Mare di Porti Lontani« (Ein Meer von fernen Häfen, 2024), Dokumentarfilm von Marco Daffra (Regie und Produktion), im Anschluss Publikumsgespräch (Seenotretter*innen angefragt).
Freitag, 2. August: »Das neue Evangelium« (2020) von Milo Rau (Regie) und Fruitmarket, Langfilm & IIPM (Produktion). Der halb dokumentarische Film zeigt Lebenssituation und Revolte ausgebeuteter migrantischer Arbeiter in der süditalienischen Stadt Matera. Im Anschluss gibt es ein Gespräch mit Christiane Lüst vom Umweltzentrum »Öko & Fair« in Gauting bei München. Sie verkauft Olivenöl aus Riace, bietet mehrmals jährlich Gruppenreisen nach Italien an und vertritt die italienische Nocap-Bewegung, die gegen Ausbeutung in der Landwirtschaft kämpft und alternative Produktions- und Vertriebswege organisiert.
Ort: Sandalia, Schillerstraße 106, Berlin-Charlottenburg. Beginn jeweils um 19 Uhr.
Das gefiel aber nicht allen in der Politik. Die Regierung in Rom stellte die Auszahlung der Fördermittel ein, Lucano wurde überwacht, als Bürgermeister abgesetzt und für fast ein Jahr aus Riace verbannt, weil ihm der Einsatz für Flüchtlinge wichtiger war als die akribische Einhaltung bürokratischer Auflagen. 2022 wurde er zu über 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Lucano soll der Kopf einer kriminellen Vereinigung gewesen sein, die zum eigenen Vorteil Geflüchtete aufgenommen habe. Allerdings wurde das Urteil im Berufungsprozess im Herbst 2023 aufgehoben, eine geringfügige Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
Ins EU-Parlament konnte die italienische Grün-Linke Allianz sechs Abgeordnete entsenden, die sich dort jedoch auf zwei Fraktionen aufgeteilt haben. Domenico Lucano und Ilaria Salis gehören der Europäischen Linken an, die anderen vier den Europäischen Grünen – darunter auch der frühere Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der sich wie Lucano für die Rechte von Geflüchteten einsetzt. Trotz dieser Aufteilung arbeiten die zwölf Abgeordneten der Grün-Linken Allianz im italienischen Parlament weiterhin zusammen.
Als am 9. Juni das Europäische Parlament gewählt wurde, fanden in Italien auch Kommunalwahlen statt. Lucano feierte in seinem Heimatdorf Riace ein Comeback: Sechs Jahre nach seiner Absetzung wurde er erneut als Bürgermeister gewählt. Gegenüber dem Online-Magazin »Open« betonte er am Mittwoch in Straßburg die Bedeutung, die das Lokale für ihn hat: »Das Bewusstsein, einen eigenen Beitrag zu leisten, um die Welt nach und nach zu verändern, das ist für mich der Sinn der Politik. Und je kleiner die Dörfer sind, desto mehr gibt es diesen Sinn: Politik ist letztlich eine direkte menschliche Beziehung zu den Leuten.« Allerdings könnte es mit den Sitzungsverpflichtungen zwischen Straßburg und Brüssel schwierig werden, diese Beziehungen in Riace zu pflegen.
Noch ist nicht bekannt, wer Lucano in Riace vertreten wird, wenn er im EU-Parlament ist. Von dieser Person wird viel abhängen für die weitere Entwicklung in dem Dorf. Auch die Beschäftigten in Lucanos Büro in Riace, das ihm als EU-Abgeordneter zusteht, werden bei der Verbindung der Themen vor Ort mit der großen Politik auf europäischer Ebene eine wichtige Rolle spielen.
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In Riace leben derzeit 50, 70 oder mehr Geflüchtete. Wie viele es sind, weiß niemand so genau, sowohl oben im Bergdorf als auch unten an der Küste in Marina. Sie schlagen sich mit Jobs in der Landwirtschaft und als Tagelöhner durch. Nur wenige haben noch bezahlte Arbeit in den Willkommensprojekten. Ein wichtiges Vorhaben für die lokale Wirtschaft ist die Ölmühle, die von dem Verein Città Futura (Stadt der Zukunft) betrieben wird. Dort gibt es wenigstens für einige Zeit bezahlte Arbeit, sowohl in der Olivenernte als auch in der Ölproduktion selbst.
Noch immer gibt es Zuzug in Riace. Im Juni sei eine Familie aus Afghanistan aufgenommen worden, teilte Lucano auf dem Facebook-Account der Menschenrechtsbibliothek »La Vecchia Posta Riace« (Die alte Post) mit. Diese wurde von Kirsten Müller-von der Heyden in einem ehemaligen Postgebäude gegründet. Sie zog vor einigen Jahren nach Riace, um das Willkommensdorf zu unterstützen. Sie arbeitet in der Ölmühle mit und sammelt Spenden für das Dorf. Bald werde auch eine Familie aus Syrien erwartet, berichtet sie.
Die Fortführung der Aufnahme Schutzsuchender in Riace wird derzeit aus den Mitteln des Manconi-Fonds finanziert, ebenso wie die Werkstätten. Dieser Fonds war ursprünglich gegründet worden, um die finanziellen Forderungen aus den Prozessen gegen Mimmo Lucano und seine Mitstreiter*innen zu bezahlen. Auf ausdrücklichen Wunsch von Lucano wurden sie jedoch für die Weiterführung der Aufnahme eingesetzt. Allerdings ist der Manconi-Fonds fast ausgeschöpft, sodass die weitere Finanzierung der Aufnahme und der Projekte nicht gesichert ist.
Die Banca Etica, die dem europäischen Verband ethischer und alternativer Banken und Finanzierungseinrichtungen angehört, war nach der Einstellung der Auszahlung der Fördergelder eingesprungen, sodass wenigstens ein Teil der Löhne und Mieten weiterhin bezahlt werden konnte. Vieles wurde auch durch private Spenden ermöglicht. Das Problem ist aber: Nach dem relativ glücklichen Ende der Berufungsverhandlung von Lucano fordert die Banca Etica nun das Geld zurück. Riaces Anwälte versuchen wiederum, die ausstehenden Fördermittel vom italienischen Staat einzufordern. Solche rechtlichen Auseinandersetzungen können allerdings Jahre dauern.
Bei der ersten Sitzung des Gemeindeparlaments von Riace habe der bisherige Bürgermeister Antonio Trifoli an eine gute Zusammenarbeit zum Wohl des Ortes appelliert, berichtet Müller-von der Heyden. Trifoli war 1999 einer der Mitgründer des Vereins Città Futura, während seiner Zeit als Bürgermeister stand er jedoch Matteo Salvinis rechter Partei Lega nahe. Das von Mimmo Lucano aufgestellte Ortsschild mit der Aufschrift »Stadt der Aufnahme« (città dell’accoglienza) hatte Trifoli entfernen lassen und stattdessen ein Schild mit den Heiligen Cosma und Damiano aufgestellt. Lucano will es nicht entfernen, sondern ergänzen mit der Aufschrift »Schutzheilige der Roma und der Migranten«.
Zu einer tragfähigen lokalen Ökonomie ist es in Riace noch ein weiter Weg. »Statt in kleinen Läden im Dorf einzukaufen, fahren die Leute mit dem Auto zum Supermarkt oder bestellen online«, erzählt Müller-von der Heyden. Dabei wäre es so wichtig, dass das Geld in Riace bleibt. Sie denkt über die Herstellung von Delikatessen wie Marmeladen, Aufstriche oder eingelegtes Gemüse nach. »Die Räume der Ölmühle stehen ja die meisten Monate leer«, sagt sie, »dort könnten wir versuchen, die Voraussetzungen für die Herstellung weiterer Produkte zu schaffen. Aber es ist schrecklich, wir haben zurzeit kaum Wasser.« Die Klimakatastrophe ist seit Jahren in Südeuropa deutlich spürbar.
Das Wasser wird in Riace nachts, manchmal auch schon tagsüber abgestellt und darf nur noch zum Kochen und zur Körperreinigung verwendet werden. Die Gärten dürfen nicht mehr bewässert werden, und so wächst auch immer weniger. Der Boden sei so trocken, erzählt Müller-von der Heyden, dass die Schafe und Ziegen nicht mehr ausreichend Futter fänden und keine Milch mehr gäben. Kürzlich sei einem Hirten bei einem Flächenbrand auch das als Tierfutter zugekaufte Heu verbrannt. Sie sorgt sich auch wegen der Olivenernte in diesem Jahr. Manche Bäume bilden wegen der Trockenheit keine Früchte mehr aus. »Das Holz wird trocken und brüchig, und wenn Olivenbäume brennen, dann explodieren sie geradezu wegen des Ölgehalts.«
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