Jobcenter in Nordrhein-Westfalen: Mehr Sanktionen beim Bürgergeld

Jobcenter-Angestellte in Nordrhein-Westfalen mit Bürgergeld unzufrieden

Sozialpolitik: Jobcenter in Nordrhein-Westfalen: Mehr Sanktionen beim Bürgergeld

Das Bürgergeld findet wenig Anklang bei Angestellten von Jobcentern. Sie sind gegen verminderte Sanktionen, für härtere Maßnahmen und empfinden die Erhöhung der Regelsätze als zu hoch. Außerdem haben sie die Wahrnehmung, dass die Reform nicht viel verändert habe. Das ergibt eine Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der Universität Bochum, die in sieben Jobcentern in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde. Repräsentativ ist die Studie nicht. Auch die Autoren verweisen darauf, Maßnahmen nicht von ihren Ergebnissen abhängig zu machen und stattdessen eine längere Erhebung des Instituts für Arbeitsmarktforschung abzuwarten. Trotzdem liefert die Befragung Einblicke in das erste Jahr nach Einführung der Sozialreform.

Nicht alle Veränderungen stoßen auf Ablehnung, vor allem das Coaching für Langzeitarbeitslose oder der erhöhte Regelsatz für Kinder werden wohlwollend aufgenommen. 51 Prozent der Befragten sind aber gegen die viel diskutierte Abschaffung des »Vermittlervorrangs«. Dieser stellte während Hartz IV Erwerbstätigkeit in den Fokus. Im Bürgergeld sollen dagegen Weiterbildungsmaßnahmen oder ein Berufsabschluss im Fokus stehen, um die langfristige Integration in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Insgesamt schätzt weniger als jede fünfte befragte Person das Bürgergeld als Verbesserung ein, die Hälfte sieht in der Reform eine Verschlechterung.

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Was heraussticht: Die Angestellten sind der Meinung, sie seien mit den Neuerungen gut vertraut. Probleme sehen sie vor allem aufseiten der Leistungsbezieher*innen. »Die Zustimmung zu Workfare hat uns überrascht«, sagt Ko-Autor Jürgen Schupp bei einer Diskussion der Studie Mitte Juli. Workfare sind Maßnahmen, bei denen Arbeitssuchende durch Zwang und etwaige Sanktionen in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Während das Bürgergeld von Beginn an Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen beinhaltete, war die Idee doch, Jobvermittlung auf Augenhöhe zu ermöglichen. »Der Kulturwandel, den das Bürgergeld hätte einleiten sollen, scheint in den Jobcentern nicht angekommen zu sein«, schlussfolgert Schupp.

Woran könnte das liegen? Darüber gibt die Befragung keine Auskunft. Die Autoren haben aber gewisse Zusammenhänge herausgearbeitet. So beurteilen vor allem ältere Beschäftigte und jene mit geringer Arbeitszufriedenheit die Reform als schlecht. Auch das Berufsverständnis spielt eine Rolle. Je nachdem, ob es den Befragten vorrangig darum geht, Menschen zurück in bezahlte Arbeit zu überführen oder ihnen soziale Teilhabe zu ermöglichen, sind sie dem Bürgergeld gegenüber eher ab- oder zugeneigt. Alles eine Frage der Mentalität?

»Der Kulturwandel, den das Bürgergeld hätte einleiten sollen, scheint in den Jobcentern nicht angekommen zu sein.«

Jürgen Schupp DIW

Einen Grund für die Ressentiments der Angestellten vermuten die Autoren außerdem in der aufgeheizten politischen Debatte rund um die Einführung der Sozialreform, die zu Teilen an die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 erinnert. Beide Male musste ein Vermittlungsausschuss eingesetzt werden, um die Reform zu beschließen. Mediale Stereotype, die das Bürgergeld mit Geflüchtetendebatten in Verbindung setzten, seien einer positiven Wahrnehmung darüber hinaus nicht förderlich.

Helena Steinhaus nimmt die Situation anders wahr. Sie ist Gründerin des Vereins Sanktionsfrei, der Bürgergeld-Bezieher*innen unterstützt, wenn sie Jobcenter-Leistungen verlieren. Durch ihre Arbeit hat sie viel Kontakt mit Menschen, die in Jobcentern arbeiten. »Mir erzählen viele, es bräuchte mehr Wärme, mehr Personal und mehr Zeit für das Personal«, sagt sie. Wenn Mitarbeitende Sanktionen befürworten würden, dann weil mit der Einführung des Bürgergelds auch die Mittel der Behörden gekürzt worden und sie deswegen überlastet seien.

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Liest man die DIW-Studie, erwächst der Eindruck, das neue Wachstumspaket der Ampel orientiere sich an den Wünschen der Jobcenter-Angestellten. Wer künftig eine Eingliederungsmaßnahme verweigert oder Schwarzarbeit nachgeht, den erwarten Bezugskürzungen von 30 Prozent auf drei Monate. Kritiker*innen zufolge treffen jene Maßnahmen die Falschen. Denn die Leistungsminderungen betreffen bereits seit Jahren fast ausschließlich Personen, die ihre Beratungstermine im Jobcenter verpassen – zum Beispiel aus medizinischen Gründen.

Ähnlich sei die Lage im Jobcenter Düsseldorf, heißt es auf nd-Anfrage. Das Jobcenter hat an der DIW-Befragung nicht teilgenommen. Von 38 553 Leistungsberechtigten haben dort seit der Bürgergeld-Einführung 286 eine Leistungsminderung erhalten. Das ergebe eine Quote von 0,7 Prozent und sei damit minimal. Die meisten Minderungen erfolgen wegen nicht wahrgenommener Beratungstermine.

Die gesetzlichen Vorgaben zu bewerten, dazu sieht sich das Jobcenter nicht in der Lage. Trotzdem klingt die Rückmeldung aus Düsseldorf um einiges positiver als jene der anderen nordrhein-westfälischen Beratungsstellen. Seit der Einführung des Bürgergelds spiele vor allem die Digitalisierung eine zunehmend wichtige Rolle, so ein Sprecher: »Wir haben festgestellt, dass die digitale Nutzung in unserem Jobcenter deutlich zugenommen hat, was zu einem weiteren Bürokratieabbau und zu besseren Dienstleistungen führt.«

Ein Fazit aus den unterschiedlichen Stimmen: Das Bürgergeld ist für endgültige Schlussfolgerungen noch nicht lange genug in Kraft. Aus dem gleichen Grund machen Umstellungen wie das Wachstumspaket aktuell noch keinen Sinn. Stattdessen führen sie zu weiterer Verunsicherung – was dem Ratschlag der Studienautoren wiederspricht. Sie argumentieren für ausreichende Ressoucen und kluge politische Kommunikation.

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