Verdauen für Profis – Die Ernährungsrevolution bei der Tour

Neue Erkenntnisse in der Ernährungsforschung sorgen für immer schnellere Fahrer bei der Tour de France

  • Tom Mustroph, Isola 2000
  • Lesedauer: 5 Min.
Radprofi Mathieu Van Der Poel trinkt bei der Tour de France einen Mix verschiedener in Flüssigkeit aufgelöster Kohlenhydrate.
Radprofi Mathieu Van Der Poel trinkt bei der Tour de France einen Mix verschiedener in Flüssigkeit aufgelöster Kohlenhydrate.

Kristof de Kegel füllt vor jeder Tour-de-France-Etappe sorgfältig die Flaschen der Profis des belgischen Rennstalls Alpecin-Deceuninck. Es sieht wie eine Wissenschaft aus, wie er die Flüssigkeiten abmisst. Und es ist auch Wissenschaft, Ernährungswissenschaft eben.

»Vor einigen Jahren dachten wir noch, ein Mensch kann etwa 60 Gramm Kohlenhydrate in der Stunde aufnehmen. Dann sagt der Magen: Schluss jetzt! Mittlerweile wurde herausgefunden, dass man mit der richtigen Mischung von Kohlenhydraten bis zu 120 Gramm pro Stunde verwerten kann«, erzählt der Sportwissenschaftler und Performance Manager »nd«. Das kann man gut und gern als Ernährungsrevolution bezeichnen. Denn Kohlenhydrate bedeuten Energie – Energie, die in den Muskelzellen erzeugt wird und die über Kontraktion und Dekontraktion für Vortrieb auf dem Rad sorgt. Die doppelte Aufnahme von Brennstoff sorgt zwar nicht für eine doppelte Geschwindigkeit. Aber die neuen Rekordzeiten der Fahrer bei der Tour de France sind auch durch den Faktor Ernährung begünstigt.

Gläserner Verdauungsapparat

Bei den Tourteams hat sich deshalb ein strenges Kontrollregime für die Energiezufuhr durchgesetzt. »Es gibt einen gut ausbalancierten Ernährungsplan für jeden Tag, abhängig von der Charakteristik jeder Etappe. Wir sehen ganz genau, wie viel Kilojoule die Fahrer umgesetzt haben. Das können wir aus den geleisteten Wattwerten aus den Radcomputern ablesen. Und daraus ermitteln wir, was wir ihnen wieder zuführen müssen. 15 Minuten nach Ende des Rennens weiß unser Koch schon, was jeder Fahrer braucht. Und danach bereitet er das Abendessen vor«, erzählt de Kegel.

Im Laufe der Saison verändert sich dieser Plan. »Wir variieren die Kohlenhydrataufnahme jedes Fahrers. In der frühen Präparationsphase im November und Dezember reduzieren wir die Kohlenhydrate. Die Fahrer leisten dort große Umfänge. Aber die Intensitäten sind vergleichsweise niedrig. Sie verbrennen dabei mehr Fett als Kohlenhydrate«, beschreibt Laura Martinelli, Ernährungsberaterin des australischen Teams Jayco AlUla den Prozess. Das ist die Saisonphase, in der das mittlerweile berühmt gewordene Zone-zwei-Training seinen Platz hat.

Fettstoffwechsel vs. Kohlenhydratverbrennung

Dabei geht es darum, den Organismus auf den Fettstoffwechsel umzustellen. »Das macht deshalb Sinn, weil die Kohlenhydratspeicher im Organismus begrenzt sind. Die Fettoxidation ist im Kontrast dazu eher unbegrenzt. Und je länger man im Fettstoffwechsel fahren kann, desto später kippt es in den Kohlenhydratstoffwechsel«, erklärt Dan Lorang, Trainingswissenschaftler und Performance Direktor bei Red Bull-Bora-hansgrohe »nd«.

Tadej Pogačars früherer Trainer Iñigo San Millán teilte das Training des Slowenen in fünf Intensitätszonen ein. Dabei war Zone zwei am unteren Spektrum angesiedelt, zeichnete sich aber durch maximale Fettverbrennung aus. Gewöhnt man den Organismus daran, rührt er die schlechter speicherbaren Kohlenhydratreserven nicht an. Das Problem dabei ist: Je höher die Intensität auf dem Rad, desto mehr Energie muss von den Kohlenhydraten kommen. Flachetappen können die Radprofis noch zu größeren Teilen im Fettverbrennungsmodus fahren. »Aber wenn du schneller werden willst, brauchst du auch die schnelleren Energiereserven, also die Kohlehydrate«, erläutert Sportwissenschaftler de Kegel. Die Sprinter zum Beispiel brauchen Kohlenhydrate für ihre maximale Beschleunigung. Und auch bei den Leistungsspitzen im Gebirge müssen in erster Linie Kohlenhydrate zugeführt werden.

Dass die Rennfahrer trotzdem nicht zunehmen, liegt daran, dass sie die vielen Kohlenhydrate in starke Wattzahlen an der Pedale umsetzen. Die meisten achten penibel darauf, dass sie kein Gramm zu viel zulegen. Denn das Gewicht müssen sie ja auch den Berg hochschleppen.

Abrahamsen macht es anders

Aber es gibt Ausnahmen. Ausgerechnet der beste Bergfahrer der ersten Hälfte der aktuellen Tour, Jonas Abrahamsen, legte an Gewicht zu. »Ich war früher Kletterer, habe schwer darauf geachtet, ganz dünn und leicht zu sein. Ich wurde aber trotzdem nicht besser. Immer leichter zwar, aber ich hatte nicht mehr so viel Kraft«, erzählte der Norweger vom Team Uno-X Mobility »nd«. Abrahamsen war auch beunruhigt, weil er mit Anfang 20 durch all die Abnehmorgien den Körper eines vorpubertären Jugendlichen hatte. »Die ganze hormonelle Entwicklung war ausgebremst.«

Deswegen entschloss er sich zu einem ungewöhnlichen Weg. »Ich legte an Gewicht zu, von 60 auf 80 Kilogramm. Ich stellte fest, dass das für meinen Körper genau das Richtige ist. Ich baute Muskeln auf und kann jetzt viel mehr Kraft auf die Pedale bringen«, beschreibt er den Prozess. »Im Hochgebirge gehöre ich natürlich nicht zu den Besten. Aber über die kleinen Hügel kann ich mit mehr Kraft fahren. Und auch meine Ausdauerfähigkeit hat zugelegt. Ich fühle mich jetzt wohl in meinem Körper«, bilanziert der inzwischen 28-Jährige.

Gemeinsam mit den Trainern und Ernährungsberatern seines Teams ging er diesen Weg. Natürlich ist es für die Spezialisten der Essensversorgung wichtig, nicht nach Schema F vorzugehen, sondern für jeden Fahrer den richtigen Weg zu finden.

Im Rennen ernährt sich Abrahamsen nicht anders als seine Berufskollegen. Etwa drei Riegel oder Gels müssen pro Stunde zugeführt werden, damit der Energiespeicher niemals leer wird. »Etwa acht bis zwölf Minuten nach Einnahme sieht man bereits den Effekt im Glukosespiegel«, sagt Sportwissenschaftler de Kegel. Das bedeutet allerdings auch, dass die Profis auf Vorrat essen müssen. Vergessen sie das, droht der berüchtigte Hungerast. Normalmenschen sollten pro Tag übrigens nicht mehr als 150 Gramm Kohlenhydrate zu sich nehmen – kaum mehr also als die Stundenration eines Radprofis. Aber der Normalmensch leistet körperlich eben auch viel, viel weniger als diese modernen Könige der Landstraßen – die in gewissem Sinne nichts anderes sind als titanische Verdauer.

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