- Politik
- Nahost
Hisbollah im Libanon: Der (un)vermeidbare Krieg
Inmitten der Kriegsgefahr sind die Libanesen mit einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise konfrontiert
Dutzende Katjuscha-Raketen hatte die schiitische Hisbollah-Miliz am Samstagnachmittag auf Nordisrael abgefeuert. Die Salve sollte eine erste Antwort auf zwei Treffer sein, die den Bewohnern der Stadt Adlun zwei Vermutungen bestätigten, die sie schon lange hegen: Zum einen scheint die Zahl der aus dem Iran an die Hisbollah gelieferten Waffen größer zu sein als gedacht; den ganzen Tag über explodierten die am Stadtrand gelagerten Raketen, die Autobahn zwischen Sidon und Tyrus musste gesperrt werden, mehrere Menschen wurden verletzt. Zum anderen scheint der israelische Geheimdienst über das Logistik-Netzwerk der Hisbollah bestens informiert zu sein.
Seit Monaten beschießen sich die israelische Armee und die Hisbollah. Die Zahl der Raketen und Drohnen, die am 4. Juni im Norden Israels einschlugen, haben den Tag zu einem Wendepunkt eines unerklärten Krieges gemacht. Über 200 Ziele hatte die libanesische Hisbollah-Miliz im Norden Israels getroffen, angeblich zerstörten Drohnen sogar wichtige Radaranlagen der israelischen Armee auf dem Berg Hermon. Die bisher größte Raketensalve der mit dem Iran verbündeten schiitischen Paramilitärs war die Antwort auf eine öffentlich weniger sichtbare Kriegsstrategie der israelischen Armee. Am Vortag war im Libanon der hochrangige Hisbollah-Offizier Mohammad Nimah Nasser von einer Drohne getötet worden. Aber mit chirurgischen Raketenangriffen auf mindestens 20 Hisbollah-Funktionäre konnte Israel die Kampfkraft der Hisbollah offenbar nicht wie erhofft schwächen.
Hisbollah ist stark bewaffnet
Angeblich soll die islamistische Hisbollah über ein Arsenal von bis zu 150 000 Raketen verfügen, darunter 5000 mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern. Damit könnten die Verbündeten der Hamas das dicht besiedelte Tel Aviv treffen. Die Miliz verfüge »über mehr Feuerkraft als die meisten europäischen Länder zusammengenommen«, sagte Ex-Generalmajor Yaakov Amidror vom Begin-Sadat-Institut für strategische Studien im Juli 2023 in einem Interview mit der Jerusalem Post. Überprüfen lassen sich solche Angaben nicht. Amidror, ehemaliger Vorsitzender des israelischen Nationalen Sicherheitsrates, hatte die israelische Regierung schon im Juni 2023 dazu aufgerufen, sich auf einen Krieg mit der Hisbollah vorzubereiten.
Ähnlich wie die israelische Armee umgibt die 20 000 Hisbollah-Milizionäre und ihre 30 000 Mann starke Reservetruppe ein Geist der Unbesiegbarkeit. Der in Washington ansässige Thinktank Zentrum für Strategische und Internationale Studien (CSIS) beschrieb die Hisbollah als »den am stärksten bewaffneten nicht staatlichen Akteur« der Welt; allerdings stammt diese Einschätzung aus dem Jahr 2018. Die Hisbollah gilt auch im Libanon als Miliz, hat aber die Befehlsketten und Struktur einer regulären Armee.
Kein Respekt für Pufferzone
Der Distanzkrieg an der libanesisch-israelischen Grenze hat bisher fast 500 Menschen das Leben gekostet. 70 000 Israelis und ebenso viele Libanesen mussten ihre Häuser verlassen. Viele Felder im Libanon sind durch israelische Phosphormunition niedergebrannt, ganze Dörfer unbewohnbar.
Aus israelischer Sicht gibt es nur einen Weg, den Raketenbeschuss zwischen der Geisterstadt Schlomi am Mittelmeer und den Golan-Höhen zu beenden: ein Rückzug der Hisbollah hinter den Litani-Fluss, der 29 Kilometer nördlich von der Grenze verläuft. Dies hätte laut UN-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006 schon lange geschehen sollen, doch beide Seiten werfen sich vor, die geschaffene Pufferzone nicht zu respektieren.
Rolle der Unifil-Mission
Eine erneute Invasion des stark bewaldeten Südlibanon, so wie 2002, wäre für die israelische Armeeführung riskant, angeblich warten 10 000 Hisbollah-Kämpfer in jahrelang vorbereiteten und versteckten Stellungen. Doch die Hardliner in Benjamin Netanjahus Kabinett wollen Fakten schaffen. Sicherheitsminister Itamar Ben Gwir und Finanzminister Bezalel Smotrich kündigten in den letzten Tagen sogar die Errichtung von jüdischen Siedlungen im Nachbarland an.
Könnte die Verstärkung der Unifil-Mission, mit der die Vereinten Nationen die Pufferzone im Libanon überwachen, einen Krieg verhindern? Oder die Übernahme des Gebietes durch die libanesische Armee kontrollieren? Im Libanon glaubt zumindest niemand, dass die vom Iran unterstützte Hisbollah ihre Positionen freiwillig räumen wird.
Sichtbare Gegensätze
»Für uns würde ein Bodenkrieg den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch bedeuten«, sagt Nina Boubez. Die drahtige Beiruterin steht wütend auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Altstadt von Beirut. Von hier, aus dem 7. Stock des von einer Sicherheitsfirma bewachten Wohnanlage, hat man freien Blick auf den Hafen und den Feierabendverkehr. Schon ein kurzer Blick auf das Stadtbild reicht, um die Gegensätze der libanesischen Wirtschaft zu verstehen. Lamborghinis und andere sündhaft teure Luxuskarossen stehen neben verbeulten Transportern aus dem verarmten Umland im Stau.
Nina Boubez ist wohlhabend, dennoch geht sie seit 2019, dem Jahr des Aufstandes gegen soziale Ungerechtigkeit, immer wieder als Aktivistin auf die Straße. »Seit der Explosion von mehreren hundert Tonnen Düngemittel im Hafen von Beirut sind wir zu Zeugen unseres eigenen Untergangs degradiert«, sagt die 47-Jährige und geht in ihrem Wohnzimmer nervös auf und ab. An den Wänden hängen moderne Kunst und traditionelle libanesische Bilder. Ihr Mann kam einst mit dem Import von ukrainischem Weizen zu Wohlstand. Doch zur oberen Mittelklasse des Libanon zu gehören, hat heutzutage nur noch wenig Bedeutung.
Wertverlust des libanesischen Pfunds
Die Landeswährung, das libanesische Pfund, hat in den vergangenen Jahren 70 Prozent seines Werts verloren. Selbst Boubez und ihr Mann sind auf Überweisungen ihrer Kinder aus dem Ausland angewiesen, wie viele Libanesen haben sie keinen Zugriff auf das ersparte Geld auf ihrem Bankkonto. Die soziale Krise motiviert Boubez, weiterhin auf der Straße zu protestieren. »Manchmal sind es nur wenige Dutzend Menschen, mit denen ich für die Auszahlung des Gesparten und gegen die Korruption auf die Straße gehe«, sagt sie. »Ich stehe weiterhin für die Werte der Revolution von 2019 ein und damit gegen die korrupte politische Elite.«
Boubez glaubt wie viele in Beirut, dass der 1998 zu Ende gegangene Bürgerkrieg in anderer Form noch weitergeht. »Die Milizenkommandeure von damals haben ihre Uniformen mit Anzügen getauscht und bestehlen seitdem gemeinsam den Staat.« Als die Libanesen im Sommer 2019 kein Geld mehr von ihren sicher geglaubten Bankkonten abheben konnten, gingen viele auf die Straße. Auch Boubez schloss sich dem sogenannten zweiten arabischen Frühling an. »Die Proteste richteten sich natürlich auch gegen die Hisbollah, die in den Jahren Waffen und Nachschub nach Syrien schmuggelte – im Interesse Irans. Um die Wirtschaftskrise im Libanon hat sie sich, wie alle anderen politischen Gruppen auch, nicht gekümmert.«
Überleben dank Solidarität
Khalil und Marwa Mnine sitzen mal wieder im Dunkeln. Ihr zwei Zimmer-Apartment wird wie an fast jedem Abend von einer Kerze erleuchtet. Strom gibt es in Tarik Al-Dschadida, einem dichtbevölkerten Stadtteil von Beirut, nur zwei Stunden am Tag. Wer auch den Rest des Tages Wäsche waschen oder Lebensmittel kühlen will, muss einen der vielen Vermieter von Notstromaggregaten in bar bezahlen. Das Brummen der Dieselmotoren hat Marwa auf ihrem Weg zu dem Gemüsemarkt begleitet. Doch das Ehepaar hat kein Geld für »Luxus« übrig, wie Khalil die erleuchteten Fenster der Nachbarn nennt. Mit einer verschlossenen Ader im Kopf war er 2019 in eine Klinik eingeliefert worden. Er überlebte die Operation, aber verlor seinen Job am Flughafen. Eigentlich müsste der 35-Jährige alle sechs Monate zur Kontrolluntersuchung ins Krankenhaus gehen, doch auch für eine Krankenversicherung reicht das Geld der Familie nicht.
»Unser Einkommen reicht gerade für Lebensmittel und für die Schulbücher unserer beiden Töchter«, sagt Marwa. Bei dem Wort Einkommen schmunzelt die stille Frau. Es sind umgerechnet drei Euro, die eine Hilfsorganisation für sozial schwache Familien im Monat überweist. Ursprünglich waren es umgerechnet über 100,- Euro, doch der dramatische Wertverlust des libanesischen Pfunds hat die Familie wie viele in Tarik Al-Dschadid über Nacht zu Bettlern gemacht. Seit der Diagnose leidet Khalil an wiederkehrenden epileptischen Anfällen und kann nur halbtags in einem Cafe aushelfen. »Meist sind es Nachbarn und Menschen, die uns kennen und mit Lebensmitteln aushelfen«, sagt er.
Krieg bedeutet Armut
Marwa Mnine arbeitete vier Jahre lang für eine Firma, die Klimaanlagen vertreibt, von ihrem Einkommen lebte die gesamte Familie. Als die Töchter jedoch schulpflichtig wurden, kündigte sie. Es gibt viele Familien in Beirut, die schon jetzt wie Kriegsflüchtlinge leben. Die meisten überleben nur durch Überweisungen ihrer Kinder oder Verwandter aus dem Ausland. »Wenn ich mir Pässe für uns alle leisten kann, dann emigrieren wir«, sagt Khalil Mnine. Vor dem Gebäude stehen wie so oft die Nachbarn und reden besorgt über die Lage an der Grenze zu Israel. Man ist stolz auf die Solidarität mit Familien wie den Mnines, »Zusammenhalten ist libanesische Tradition«, sagt einer. »Aber im Falle eines Krieges würde auch in Tarik Al-Dschadid nach wenigen Stunden alles zusammenbrechen.«
In dem umtriebigen Geschäftsviertel von Beirut rückt Nicolas Chammas seine Krawatte zurecht und lächelt. »Ich liebe diese Stadt«, sagt der Präsident des Händlerverbandes. Doch schnell wird seine Mine ernst. »1,5 Millionen Syrer leben im Libanon. Viele haben Firmen aufgemacht, ohne Steuern zu zahlen. Sie sind für meine Kollegen ein großes Problem.« Doch ohne einen Präsidenten und inmitten der ständigen Kriegsgefahr würde es kein Abkommen zur Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat geben, sagt Chammas. Eine Flüchtlingswelle aus dem Süden des Landes würde die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt noch erhöhen, warnt er.
»Unser Einkommen reicht gerade für Lebensmittel und für die Schulbücher unserer beiden Töchter.«
Marwa Mnine Mutter aus Beirut
»Dazu fordern wir die Regierung auf, endlich unseren Vorschlag zur Sicherung eines Großteils der Guthaben der Bankkunden aufzunehmen.« Bis zu Zweidrittel der seit 2019 eingefrorenen Sparguthaben würde man retten können, glaubt Chammas. »Die Alternative wäre der Totalverlust der Gelder, vielleicht warten einige Banken auf eine Gelegenheit, dies zu verkünden.« Käme ein Krieg also einigen im Land gelegen? Nicolas Chammas gibt sich lieber optimistisch. »Der Libanon benötigt in dieser Währungs- und Schuldenkrise internationale Hilfe, um das Schlimmste zu verhindern. So wie es die Türkei in der Krise gemacht hat.«
Der an der amerikanischen Universität von Beirut lehrende Historiker Makram Rabah glaubt nicht an die militärische Stärke der Hisbollah. Doch genau deshalb sieht der 35-Jährige für den Libanon eine düstere Zukunft voraus. In seinem Arbeitszimmer habe er sich mit Geschichtsbüchern verbarrikadiert, lacht er zynisch. Aber bedrohlich ist die Lage für Kritiker tatsächlich. Wie viele Kritiker der islamistischen Miliz geht er selten allein auf die Straße. Rabah erinnert an das Jahr 2006, als das israelische Militär schon einmal die Hisbollah aus den Dörfern des Grenzgebietes zu vertreiben versuchte. Unter den etwa 2000 Toten auf libanesischer Seite waren nur 500 Milizionäre. Israelische Bomben fielen auch auf die von Schiiten bewohnte Wohnviertel Beiruts.
Zweifel an der Stärke der Hisbollah
»Während Hisbollah-Funktionäre noch immer an den Wochenenden Touristen-Touren durch die damals eingestürzten Wohnhäuser machten, sind die im Süden des Landes in Richtung israelischer Grenze führenden zerstörten Straßen und Brücken wieder repariert.« Das damalige israelische Argument für die Bombardierung ziviler Wohnviertel war, man müsse die Logistiknetzwerke der Hisbollah treffen. »Die Strategie ist nicht aufgegangen«, sagt Makram Rabah. In einem erneuten Krieg werde Israel den Libanon in die Steinzeit zurück bomben, warnte Israels Verteidigungsminister Joaw Galant.
Doch die Hisbollah ist auch in den Augen ihres Kritikers Makram Rabah mittlerweile eine andere Organisation als vor 17 Jahren. In den armen schiitischen Vierteln Beiruts sind die Lebensmittelpreise niedriger als im Rest Beiruts, über den von der Hisbollah kontrollierten Hafen von Beirut gehen Waren direkt nach Syrien und in schiitische Gebiete im Libanon. Während christliche und sunnitische Libanesen auch nach dem 7. Oktober distanziert blieben, sitzen Zehntausende schiitische Libanesen vor den Bildschirmen der Cafes in Beiruts Süden, wenn Hassan Nasrallah eine seiner seltenen öffentlichen Reden hält. Makram Rabah hält die Hisbollah für einen Staat im Staate. »Wir haben derzeit keinen Präsidenten, weil die Hisbollah dies nicht will«, sagt er. »Keine politische Entscheidung kann ohne die Hisbollah-Führung getroffen werden, auch wenn dies ein Bruch der Verfassung ist.«
Doch seit der schweren Explosion im Hafen von Beirut, bei dem im August 2020 mehrere Tausend Tonnen Dünger explodierten, 200 Libanesen getötet und 6500 verletzt wurden, würde ein ähnlich desaströser Krieg die Hisbollah im eigenen Land isolieren. Immer wieder wurde Rabah von Unbekannten bedroht, sein Freund und notorischer Hisbollah-Kritiker, der Schriftsteller Lokman Slim, wurde im Februar 2021 in einem schiitischen Viertel Beiruts ermordet. »Wir Libanesen müssen mit den korrupten politischen Netzwerken aufräumen, die sich hinter der Hisbollah verstecken«, sagt Makram Rabah. Über Krieg oder Frieden werde in Teheran entschieden, glaubt er. »Wir müssen uns daher darauf konzentrieren, uns unser eigenes Land zurückholen.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.