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Feminizide in Berlin: Der systemische Frauenmord

Das »Netzwerk gegen Feminizide« über Gewalt gegen Frauen als Ausdruck von patriarchaler Gewalt und was man konkret tun kann

Dunkelziffer unbekannt: 155 Frauen wurden 2023 von ihren Partnern umgebracht.
Dunkelziffer unbekannt: 155 Frauen wurden 2023 von ihren Partnern umgebracht.

Gewalt gegen Frauen ist ein alltägliches Phänomen, auch von Feminiziden liest man immer wieder. Wie kann ich mir die Arbeit Ihres Netzwerkes vorstellen? Womit sind Sie aktuell befasst?

Marina Seddig: Natürlich sind wir mit der alltäglichen feminizidalen Gewalt beschäftigt, mit den Feminiziden in Berlin. Aber wir sind auch Teil einer globalen feministischen Bewegung. Wir können viel lernen von den Kämpfen gegen Feminizid überall auf der Welt und unterstützen uns gegenseitig. Zudem arbeiten wir aktuell an Bildungsworkshops zum Thema Feminizid für Schüler*innen.

Mit Blick auf Berlin: Wo werden Feminizide verübt und von wem? Gibt es Schwerpunkte?

MS: Feminizide gibt es in jedem Bezirk und in allen Bevölkerungsschichten. Generell finden Feminizide nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum statt. Die Täter sind meistens Partner, Väter, Verwandte und Bekannte.

Rebecca Zorko: Die höchste Gefahr besteht immer dann, wenn sich eine Frau von ihrem Partner trennt und in Fällen, in denen die Herrschaft von Männern über Frauen infrage gestellt wird. Also wenn patriarchale Geschlechterrollen aufgebrochen werden. Auch queere Menschen werden durch feminizidale Gewalt umgebracht.

Interview

Marina Seddig und Rebecca Zorko engagieren sich im »Netzwerk gegen Feminizide«.

Das Netzwerk hat sich 2020 gegründet, wie hat sich die Situation seitdem in Berlin entwickelt?

RZ: Das BKA listet für 2023 bundesweit 155 Morde an Frauen durch (Ex-)Partner. Dazu kommen Feminizide an Müttern, Töchtern, Sexarbeiter*innen … Wir gehen von einem Anstieg aus: Früher hat man von einem Feminizid alle drei Tage gesprochen, mittlerweile sind wir bei jedem zweiten Tag. Diese Entwicklung macht auch vor Berlin keinen Halt: Erst im Juni gab es innerhalb einer Woche gleich drei Feminizide.

MS: Während der Corona-Pandemie bekam das Thema häusliche Gewalt viel Aufmerksamkeit. Alle waren gezwungen, zu Hause zu bleiben, die Gewalt stieg eklatant. Seitdem sind die Zahlen aber nicht zurückgegangen.

Man würde ja eher das Gegenteil vermuten, wenn die Aufmerksamkeit steigt.

MS: Ich sehe den Widerspruch nicht. Gerade, wenn die Aufmerksamkeit steigt, wird genauer hingeschaut und mehr Fälle werden erfasst.

RZ: Ich interpretiere das auch als erstarkende Gegenbewegung gegen Feminismus: Feminizid und Gewalt sind Instrumente zur Aufrechterhaltung des Patriarchats.

Wo fängt ein Mord an ein Feminizid zu sein und was wäre kein Feminizid mehr?

MS: Es geht immer darum, dass Personen umgebracht werden, weil sie Frauen sind. Darüber hinaus beinhaltet der Feminizid eine Mitschuld des Staates. Der Staat fördert Bedingungen, in denen Frauen umgebracht werden.

RZ: Im Fall von einem Feminizid im Kontext einer (Ex-)Beziehung ist es natürlich klar. In anderen Fällen ist es schwerer zu beurteilen. Ein Beispiel: Ein Raubüberfall, es geht um Geld, hinter dem Tresen steht eine Frau, die vom Räuber getötet wird. Man würde vermuten, dass es kein Feminizid und das Geschlecht egal war. Jedoch könnte der Täter misogyne Überzeugungen haben, die ihn dazu veranlassten, zu töten, statt ihr ins Knie zu schießen. Uns geht es im Kampf gegen Feminizide vor allem darum: Feminizide haben ein System, dessen Ziel Erhalt und Durchsetzung patriarchaler Herrschaft ist. Mit Bezug auf die »Ni una Menos«-Bewegung verwenden wir deshalb den Begriff Feminizid, statt Femizid, weil wir uns auf die Analysen unserer Verbündeten in Lateinamerika beziehen.

Was braucht es konkret, um Frauen vor Feminiziden zu schützen?

RZ: Es braucht mehr Plätze in Frauenhäusern – laut Istanbul-Konvention doppelt so viele wie heute. Dafür braucht es mehr Geld für Gewaltschutz: Die autonomen Frauenhäuser weisen darauf hin, dass diese wichtige Finanzierung gefährdet ist. Aber es kann nicht nur darum gehen, wie sich feminisierte Menschen schützen können. Es geht um Prävention. Die Taten müssen aufhören und dazu muss sich etwas an der Mentalität ändern; müssen sich gesellschaftliche Konventionen ändern.

Wie kann ich mich verhalten, wenn ich befürchte, dass Frauen in meinem sozialen Umfeld Gewalt erfahren, vielleicht sich sogar ein Feminizid anbahnt, ich mir aber unsicher bin?

MS: Ein Feminizid ist die höchste Eskalationsstufe von geschlechtsbezogener Gewalt. Es passieren oft einige Schritte davor, zum Beispiel Stalking durch den (Ex-)Partner, in denen Frauen nicht ernst genommen werden, wo ihnen nicht geglaubt wird, dass Gefahr besteht. Stattdessen wird Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Es ist schwer, sexualisierte Gewalt oder generell Gewalt, die im Privaten passiert, nachzuweisen. Oft kann Gewalt nicht einfach dokumentiert werden. Finanzielle Abhängigkeit macht den Ausbruch aus einer Gewaltbeziehung noch schwerer.

Aber was kann ich konkret tun?

RZ: Auf jeden Fall ansprechen, sich solidarisch zeigen. Für einen akuten Streit in der Nachbarschaft gibt es diesen Tipp: Klingeln und ganz unverfänglich nach etwas fragen, zum Beispiel Mehl, einfach um die Situation zu unterbrechen. Wichtig ist es, die Betroffenen aus dieser Gewaltspirale rauszuholen, auf Hilfsangebote verweisen und nicht zuzulassen, dass das soziale Umfeld der Betroffenen immer kleiner wird. Es gibt die Hotline der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen, die kann man immer anrufen. Konkrete Hilfe kann aber auch bedeuten, die betroffene Person nicht gleich zur Polizei oder zur Anzeige drängen, weil das für viele ein schwieriger Schritt sein kann. Vielleicht sind Kinder mit im Spiel oder der Aufenthaltsstatus ist unsicher. Es ist auch wichtig, den Betroffenen zu glauben und nicht dem Gedanken »Der Täter ist aber so nett, das kann gar nicht sein« zu verfallen. Weil viele Täter sind auf irgendeiner Ebene nette Personen. Das schließt aber eben nicht aus, dass sie auch Täter sein können.

Eine Ihrer Forderungen ist es, Feminizid als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Was erhoffen Sie sich davon?

RZ: Wir wollen, dass Feminizide dauerhaft anerkannt werden, in der Öffentlichkeit und in den Institutionen. Damit das reale Phänomen des Feminizids eine juristische Entsprechung hat. Denn Feminizide werden oft schwächer geahndet, wenn der Täter »im Affekt« gehandelt hat.

Gleichzeitig fordern Sie, dass Polizei und Justiz keine öffentlichen Mittel mehr bekommen sollen, wie passt das zusammen?

RZ: Dieses Spannungsverhältnis spiegelt die unterschiedlichen Anliegen und Positionen wider, die es auch in unserem Netzwerk gibt. Natürlich kämpfen wir für Reformen, die ganz akut in der realen Situation Betroffene schützen. Gleichzeitig geht es aber auch darum, institutionalisierte Systeme grundlegend zu hinterfragen und alternative Perspektiven zu gängigen gesellschaftlichen Diskursen anzubieten. Es kann nicht sein, dass der Kampf gegen patriarchale Gewalt von rechts instrumentalisiert wird. Übergriffe oder Vergewaltigungen im öffentlichen Raum sind furchtbar, die meisten passieren aber trotzdem im Privaten. Es ist keine nachhaltige Lösung, zu sagen, wir brauchen mehr Polizei. Wir fordern stattdessen mehr zivile Unterstützungs- und Bildungsangebote.

Termine während der 7. Aktionswoche gegen Feminizide und sexualisierte Gewalt
  • Kundgebung anlässlich des 10. Jahrestags des IS-Genozids an den Ezid*innen: 3. August, 18 Uhr, Bebelplatz, 10117 Berlin
  • Kundgebung zum Internationalen Gedenktag für die »Trostfrauen«: 14. August, 18 Uhr, Bremer Straße 41, 10551 Berlin

Sie sind an der 7. Aktionswoche gegen Feminizide und sexualisierte Gewalt beteiligt, die jetzt beginnt. Was ist da geplant und was wollen Sie damit erreichen?

RZ: Die Aktionswoche, die dieses Jahr zu Aktionsmonaten ausgeweitet wurde, beginnt am 3. August mit einer Kundgebung anlässlich des zehnten Jahrestages des Feminizids und Genozids durch den IS an den Ezidinnen im Nordirak. Die Ezidinnen sind nach wie vor bedroht im Wiederaufbau ihrer Zukunft.

MS: Am 14. August ist der 12. Internationale Gedenktag für die sogenannten »Trostfrauen«. Er erinnert an Kim Hak-sun, die am 14.8.1991 als Erste ihr Schweigen brach. In Berlin-Moabit erinnert die Friedensstatue an die »Trostfrauen«, ca. 200 000 Frauen und Mädchen, die vom japanischen Militär im Zweiten Weltkrieg vergewaltigt und sexuell versklavt wurden. Viele Frauen überlebten nicht. Nachdem die Verbrechen, dieser kollektive Feminizid, Jahrzehnte totgeschwiegen wurde, soll die Friedensstatue auf Druck des japanischen Außenministeriums und mit Zustimmung der Bezirksbürgermeisterin am 28. September abgebaut werden. Das ist ein Beispiel für die Widerstände, auf die Frauen treffen, wenn sie sich Strukturen aufbauen und an etwas erinnern wollen.

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