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Keller voller Täterakten

Der Journalist Thies Marsen betreibt in seinem Podcast »Omas Tasche und das Hitler-Attentat« familiäre NS-Forschung

  • Friedrich Burschel
  • Lesedauer: 7 Min.
In der überwältigenden Mehrheit der deutschen Familien belegen Dokumente eine NS-Mittäterschaft.
In der überwältigenden Mehrheit der deutschen Familien belegen Dokumente eine NS-Mittäterschaft.

Wer Thies Marsen kennt und ihn regelmäßig im »Bayerischen Rundfunk« hört, weiß, dass einer seiner Schwerpunkte die deutsche Geschichte ist – insbesondere die des Nationalsozialismus und seiner Folgen bis heute. Er gilt auch als der »BR«-Experte für die extreme Rechte im Lande und ihre hässlichen Fratzen. Seine Stimme ist das Markenzeichen des Radiomanns, es ist angenehm, ihm zuzuhören.

Nun ist Marsen etwas Außergewöhnliches gelungen: Er hat einen Podcast gemacht zu seiner eigenen Familiengeschichte und hat auf sehr besondere Weise seiner Großmutter Caroline, genannt Ini, die mitten in der Pandemie 2020 103-jährig gestorben war, ein berührendes Denkmal gesetzt. Ihre brüchige Stimme mit starkem bayerischen Zungenschlag ist zu hören, und sie erzählt, wie sie 1944 die Aktentasche besorgt habe, in der Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli jenes Jahres die Bombe transportierte, die Adolf Hitler töten sollte. Dies scheiterte, wie wir wissen, und hatte für einige Hundert Menschen in Opposition zu Hitler härteste Repression zur Folge, kostete viele gar das Leben.

Er habe diese Erzählung, so Marsen, mehr als eine Schrulle seiner Oma abgetan und lange Zeit einfach nicht weiter beachtet. Doch habe ihm die seltsame Geschichte letztlich keine Ruhe gelassen, und er habe so etwas wie einen Auftrag gespürt, der Sache nachzugehen – schließlich sei Ini so stolz auf ihn als Reporter und Historiker gewesen. Und so tat er etwas, das erst die dritte Generation nach dem Zweiten Weltkrieg und auch erst in fortgeschrittenem Alter richtig anzugehen scheint: Nachforschen, wie es wirklich gewesen sein könnte.

Täterforschung der Enkel

Was Marsen tut, dokumentiert er mit seinem Aufnahmegerät in der Hand, und es ist ihm ein akustisches Meisterwerk der Aufarbeitung deutscher Geschichte gelungen. Ein Podcast mit vier knapp 40-minütigen Kapiteln, in dessen Zentrum das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 und der Beitrag stehen, den der Generalstabsoffizier Major Walter Rudolph, sein Großvater, dabei geleistet haben könnte. Wie viele andere der »Boomer«-Generation fand Marsen beim Besuch des Familienarchivars, seinem Cousin Alexander, in einem »luftdichten Aktenschrank« einen Riesenhaufen Briefe, Dokumente und andere Überreste der Geschichte von vor 80 Jahren.

Inzwischen gibt es eine Fülle solcher Familienforschungen, fast alle drehen sie sich um Kisten, Schränke und Mappen, in denen diese Schriftstücke seit Jahrzehnten irgendwo im Keller oder Dachboden lagerten und die Zeit in oft makellosem Zustand überdauerten. Hier wären zunächst einige Bücher aus der ersten Generation zu nennen, etwa Dörte von Westernhagens »Die Kinder der Täter« oder Niklas Franks Abrechnung »Der Vater«. Außerdem gibt es Dokumentarfilme wie den beeindruckenden »2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß« von Malte Ludin. Ludin findet ebenfalls eine Kiste mit Dokumenten seines Vaters Hanns Ludin und hält die Beweise von dessen Mittäterschaft der geschönten Familienerzählung über seinen Vater entgegen, der in Wirklichkeit der NS-Vernichtungselite angehörte.

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Aber nun kommen die Enkel. Ein Pionier der – im wahrsten Sinne des Wortes – Aufarbeitungsarbeit dieser Generation ist vielleicht Johannes Spohr mit seiner Infragestellung des ahnungs- und kritiklosen Andenkens an seinen Großvater in dessen Herkunftsstadt Nordenham. Zumindest ist er einer der wenigen, die den Ärger und die Anfeindungen, die sie sich mit dieser Forschung aufhalsen, öffentlich gemacht und daraus eine Art Selbsthilfe-System entwickelt hat. Spohr gibt heute regelmäßig Workshops für Angehörige der zweiten, dritten und vierten Generation von Nachkommen – nicht nur von Angehörigen der Mordeliten, sondern auch gewöhnlicher »Rädchen im Getriebe« des NS-Staats ab 1933 und in der nationalsozialistischen Kriegsmaschine von 1939 bis 1945.

Toxische Ahnenforschung

Wie Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall in dem Buch »Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis« in erschütternder Weise belegen, sparen die Familienerzählungen in der Regel die dunkelsten Kapitel, Mitschuld, Mittäterschaft und Verbrechen aus, verharmlosen oder beschönigen das Wirken des Vorfahren. Die Beteiligung an den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus bleibt über Generationen hinweg Gegenstand von Verleugnung und Verdrängung, aber auch Scham und Wut und Ratlosigkeit. Spohr bietet Wege zur Verfeinerung und Systematisierung der Familienrecherche an und gibt damit den oft mit den Ergebnissen der Archivsuche überforderten Nachfolgegenerationen Werkzeuge für die schwierige Aufarbeitung der Verstrickung der Familie in den Hitler-Staat an die Hand. Auf seinem Blog »Preposition« und seiner Website »Presentpast« informiert er über alle Aspekte dieser für viele Nachkommen toxischen Ahnenforschung.

Insofern sollte auch der ARD-Podcaster Thies Marsen seine Überraschungen erleben, als er mit den Nachforschungen zu seinem Opa und zu der Geschichte begann, die seine Großmutter über die Aktentasche mit Stauffenbergs Bombe erzählte. Er stolpert dabei auch über Mythos und Wirklichkeit des Widerstands deutscher Offiziere gegen ihren Führer Adolf Hitler.

Viele der Täter waren bis zum Wendepunkt des Krieges, etwa um die Niederlage von Stalingrad im Vernichtungskrieg gegen Stalins Sowjetunion, fanatische Anhänger des faschistischen Größenwahns. Sie beteiligten sich an den Menschheitsverbrechen in ihren hochrangigen Positionen bei Wehrmacht, SS, im Parteiapparat und der Beamtenschaft, waren glühende Antisemiten und Nationalisten, die für das »Großdeutsche Reich« bereit waren, über ganze Gebirge von Leichen zu gehen. Das gilt, sehr zur Verstörung des Enkels, auch für Marsens Opa, den Gebirgsjäger-Major Walter Rudolph.

Widerstand oder Täterschaft?

Marsen befragt dazu im Podcast den Historiker Ralf Klein, der über das gescheiterte Attentat des 20. Juli Klartext redet und in Abrede stellt, was einst Außenminister Scharping sagte, nämlich dass der 20. Juli 1944 der »Inbegriff des deutschen Widerstands« gewesen sei. Ganz das Gegenteil sei der Fall. »Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff Widerstand, vor allem in diesem Zusammenhang«, sagt Klein und erinnert daran, wer die Attentäter waren und welcher Gesinnung sie anhingen: »Demokraten waren das sicher alle nicht.«

Die Geschichtswissenschaft geht von allenfalls 200 000 Deutschen aus, die aktiv und unter Einsatz ihres Lebens Widerstand gegen das Regime geleistet haben.

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Die Geschichtswissenschaft geht von einer Zahl von allenfalls 200 000 Deutschen aus, die aktiv und unter Einsatz ihres Lebens Widerstand gegen das Regime geleistet haben – das waren damals um die 0,3 Prozent der Bevölkerung, überwiegend Kommunist*innen, aber auch Sozialdemokrat*innen, Christ*innen unterschiedlicher Prägung, Jüd*innen und andere.

Marsen unterhält sich über die Rolle des Widerstands der Militärs auch mit der Enkelin Stauffenbergs, Sophie von Bechtolsheim, mit einem Historiker im Institut für Zeitgeschichte in München und vor allem immer wieder auch mit Angehörigen seiner eigenen Familie. Dass einige von ihnen auch nicht mehr leben, macht die Tondokumente mit den Stimmen seiner Oma, seiner Mutter Bärbel und seiner Tante Dorle noch ergreifender.

Der Journalist ist hin- und hergerissen zwischen einem gewissen Stolz, dass der Opa irgendwie doch Widerständler war, und dem Entsetzen, dass er zugleich Mittäter in der Schoah gewesen ist. Er schildert seine Skrupel, die Familiengeschichte mit all ihren Schattenseiten derart auszubreiten und über den leicht zugänglichen Podcast wahrscheinlich noch öffentlicher zu machen, als das mit einem Aufsatz oder Buch überhaupt möglich gewesen wäre. Kann er seiner während der Recherchen noch lebenden Oma die »ganze Geschichte«, vor allem den Teil mit Opa Walters Verstrickung in den NS-Massenmord, überhaupt zumuten?

Schließlich zitiert Marsen noch einmal den »Familienarchivar«, Cousin Alexander: »Auch wenn an der Geschichte gar nichts dran ist, finde ich es trotzdem interessant, wie so ein Mythos konstruiert wird. Und was steckt dahinter? Aber ich glaube, wir sind es schuldig, zumindest alles dafür zu tun, um das herauszufinden: Ist da was dran und was ist da dran?« Im Hinblick auf diese Schuldigkeit hat Thies Marsen mit seinem Podcast einen Maßstab gesetzt.

Der Podcast »Omas Tasche und das Hitler-Attentat« ist zu finden unter: www.ardaudiothek.de
Über die familiäre Täterforschung von Johannes Spohr informieren die Webseiten: www.present-past.net und www.preposition.de

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