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Mit den Berliner Radsport-Ultras an der Strecke

500 000 Menschen säumen die Straße beim Olympischen Straßenrennen, darunter auch ein kleiner Schachmann-Fanclub vom SC Berlin

Mit Schachi-Fahne in Paris: Olaf Böhlke vom SC Berlin
Mit Schachi-Fahne in Paris: Olaf Böhlke vom SC Berlin

Es ist 15 Uhr und an der Kreuzung Boulevard de Clichy/Rue des Martyrs sind die Claims abgesteckt. Vor den Bürgersteigen sind Absperrungen errichtet, demnächst sollen hier die 90 Starter des olympischen Straßenrennens vorbeirasen. Seit Stunden schon bevölkern Radsportbegeisterte die umliegenden Gassen im Stadtteil Montmartre. An den steilen Anstiegen hinauf zur Basilika Sacré-Cœur wird die Entscheidung des 273-Kilometer-Rennens fallen.

Hier an der Mündung der kastaniengesäumten Promenade auf der Mitte des Boulevards de Clichy hat Olaf Böhlke den besten Platz zum Zuschauen ausgemacht: »Hier kommen sie dreimal vorbei, erst von da unten, dann noch zweimal auf ihrer Runde von rechts«, sagt der Berliner und zieht das weinrote Transparent fest, dass er fernsehwirksam an der Absperrung angebracht hat: »SC Berlin Ultras« steht da in weißen Buchstaben.

Der Radsportklub aus Hohenschönhausen hat auch »seinen« Starter im Pariser Olympiarennen: Maximilian Schachmann aus Berlin, einer von zwei Teilnehmern aus den Reihen des Bundes Deutscher Radfahrer. Der 30-Jährige vom Team Bora-hansgrohe fuhr als Nachwuchsfahrer anderthalb Jahre für den SC Berlin, ehe er seine beachtliche Profilaufbahn begann, in der er schon zweimal das Etappenrennen Paris-Nizza gewinnen konnte.

Seither schmücken sie sich beim SC Berlin gerne mit Schachmann, auch wenn der ursprünglich beim Marzahner RSC das Einmaleins des Radsports erlernt hat. Tja, selber Schuld daran. »Ich hab noch keine Marzahner hier gesehen«, sagt Böhlke mit verschmitzten Lächeln. Stattdessen gebe es die SC-Berlin-Ultras. »Vielleicht kann Schachi ja auch mit unserer Unterstützung heute was reißen!« Beim Einzelzeitfahren am ersten Olympiawochenende ist Maximilian Schachmann immerhin Neunter geworden.

Böhlke ist ein kleiner, drahtiger Mann mit Bart und Zopf, die 58 sieht man ihm nicht an. Er trainiert beim SC Berlin die U11- und die U13-Fahrer. Mit seinen Trainerkollegen Oskar, Tobi, Joe und Vereinsfreund Bodo sind sie am Freitagnachmittag in Berlin mit dem vereinseigenen Sprinter-Teambus aufgebrochen. 1100 Kilometer, Böhlke ist durchgefahren, nachts um drei hat er im Vorort Aubervilliers den Zündschlüssel nach links gedreht: Nachtruhe! Seine Mitreisenden haben sich auf den Rücksitzbänken und dem Fahrzeugboden mit Luftmatratzen eingerichtet. Böhle hat darüber seine Hängematte aufgehängt, und darin versucht, etwas Schlaf zu erhaschen. Viel war es nicht.

Am Samstagmorgen sind sie mit der Metro 12 los: Raus aus den Banlieues, rein ins Stadtzentrum. Schon beim Start am Trocadéro sind die SC-Ultras dabeigewesen und haben Schachmann und Kontrahenten angefeuert. Nachdem das Starterfeld an ihrem Platz an der Seine vorbeigerast war, sind die Berliner Fans die vier Kilometer rauf nach Montmartre gelaufen. Ein bisschen Sightseeing muss sein.

Nun heißt es, das Stück Absperrung zu besetzen, an dem das SC-Banner hängt: Schließlich wollen die Ultras ihren Liebling aus der ersten Reihe anfeuern. Vielleicht hört er ja ihre »Schachi, Schachi«-Rufe? Oder er sieht er sogar das Transparent? Er wird ja eine Weile darauf zu rollen.

In der ersten Reihe: Die Berliner an ihrem Banner
In der ersten Reihe: Die Berliner an ihrem Banner

Am Boulevard de Clichy wird es zunehmend voller. Vor allem aus Richtung Pigalle strömen immer mehr Menschen heran. Nach und nach werden alle Straßenübergänge geschlossen. Die Sonne brennt unerbittlich. An den Absperrungen stehen sie in Dreierreihen. Eine Staffel aus 40 Motorradpolizisten knattert vorbei, die Leute johlen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite haben sich dänische Fans in rot-weißen Trikots aufgereiht. »Denmark, Denmark!« skandieren sie, das Berliner Fan-Grüppchen antwortet mit »Schachmann, Schachmann!« Die Umstehenden lachen, längst sind auch die umliegenden Balkons gut besetzt. Pariserinnen in Sommerkleidern – Weingläser in der Hand – erwarten Amüsement von den Radprofis, zur Not auch von den Zuschauern.

An der Absperrung starren die viele auf ihre Handy-Bildschirme: 500 000 Menschen sollen heute an der Strecke stehen, heißt es, oben an der Sacre Coeur sitzen sie zu Tausenden auf den Treppenstufen vor der Basilika. Irgendwann kommen die ersten offiziellen Autos auf der Strecke herangerast. Die SC-Berlin-Ultras postieren sich, Olaf Böhlke schnappt sich seine SC-Fahne. Er hat sie extra anfertigen lassen und an einer langen Angelrute befestigt. »Schachi. Absolut dynamisch. Einer von uns« steht da drauf. Ob sie in Paris mit dem Spitznamen etwas anzufangen wissen? Oder mit der Anspielung auf den SC Dynamo, den Vorgängerverein des SC Berlin in der DDR, der etliche Olympioniken hervorgebracht hat, nicht zuletzt Jan Ullrich, Straßenrad-Olympiasieger 2000 in Sydney?

Im Profiradsport spielen Vereine keine entscheidende Rolle. Sie bilden nur die Basis, die Ausbildungsstätten für die Profiteams, in denen die Besten als Erwachsene starten können. »In Sachen Nachwuchs ist der SC Berlin der größte Verein Berlins«, sagt Olaf Böhlke stolz. »80 Kinder, ich glaube, damit sind wir sogar deutschlandweit ganz vorne dabei.«

Und natürlich lässt sich leichter Nachwuchs finden mit berühmten Namen wie Schachmann. Böhlke und Co. haben dem Profi ein Grußvideo zugesandt, die SC-Kids aufgereiht mit ihren Rädern stehen: »Allez, allez, allez!« rufen sie in die Kamera, so wie die französischen Radsportfans es tun: Frankreich ist das Dorado für Radfahrer, Paris mit der jährlichen Zielankunft der Tour de France auf dem Champs-Élysées ein mythischer Ort. Und nun ist bei Olympia einer von ihnen mit dabei: Schachi!

Am Boulevard kommen nun die ersten Autos des Trosses an, Motorräder hinterher: Aufgeregtes Hupen, ein Raunen geht durch die Reihen. Die Menschen drängen an die Absperrungen. Es riecht nach Schweiß, Bier und Sonnencreme. Die SC-Ultras stehen an der Absperunng bereit, zwei sind jetzt oberkörperfrei. Nur Olaf Böhlke steht jetzt etwas abseits: Er hat sich ein paar Meter hinter den Zuschauern postiert. Er schwenkt seine Fahne lieber in sicherer Entfernung. Nicht, dass noch irgendetwas schiefgeht. Die Streckenführung ist eng, an dieser Kreuzung müssen die Fahrer eine steile Linkskurve fahren.

Schon als die Fahrer das erste Mal laut surrend hindurchgerauscht sind, ist den Berliner Fans klar, dass das heute nichts wird mit einem Podestplatz für ihren Mann im Peloton. Wo ist Schachi? Der Deutsche rollt am Ende der zweiten Verfolgergruppe mit. Das wird nix Großes. Egal, die nächsten Bierflaschen werden geöffnet. Vielleicht kann ja wenigstens sein Teamkollege Nils Politt, der deutsche Meister, noch etwas erreichen? Der liegt eine Gruppe weiter vorn. Und das hier ist ein Olympiarennen ohne die üblichen Teamkonstellationen, ohne den Teamfunk im Ohr. Hier erfahren die Renner die Zwischenstände noch von den Tafeln der Begleitmotorräder.

Bei der zweiten Umrundung ist Politt noch dabei, Schachmann fährt weiter unter ferner liefen. Doch den SC-Berlin-Ultras ist es egal, sie feiern das Rennen selbst, wie auch allen anderen Umstehenden: Es wird ausnahmslos jedem zugejubelt, auch hinterher fahrenden Chinesen, Ugandern oder Griechen.

Als der Tross das dritte Mal am Boulevard de Clichy vorbeikommt, fährt schon der spätere Sieger ganz vorn: Der bärenstarke Belgier Remco Evenepoel hat sich an die Spitze des Feldes gesetzt und fährt das Rennen in Führung liegend nach Hause. Dass Evenepoel am Louvre sogar noch noch einmal einen Platten hat und das Rad tauschen muss, verbreitet sich unter den Umstehenden per Mund-zu-Mund-Propaganda: Längst nicht alle können sich das Rennen im Livestream zuende anschauen, das Handynetz ist zu schwach, vermutlich wegen Überlastung zusammengebrochen.

Irgendwann steht Remco Evenepoel jubelnd im Ziel an der Brücke Pont d’Iéna, mehr als sechs Stunden ist er auf der Strecke gewesen. Maximilian Schachmann rollt als 28. mit 2:59 Minuten Rückstand über die Linie, sein Kollege Nils Politt als 70., fast 20 Minuten später als der Sieger. Auf dem Montmartre packen die SC-Berlin-Ultras derweil ihr Banner ein: »Diese Reise hat sich gelohnt«, sagt Olaf Böhlke. »Diese Stimmung heute! Unbezahlbar sowas, das erlebst du nur einmal!«

Sieger Remco Evenepoel aus Belgien im Ziel
Sieger Remco Evenepoel aus Belgien im Ziel

Dann bricht er mit seinen Kollegen auf in Richtung Metro. Sie wollen in Aubervilliers am Teambus noch ein paar Würstchen grillen, ehe es auf die 1100 Kilometer lange Heimreise geht. »Aber nicht so lange, wir dürfen nicht trödeln«, sagt Olaf Böhlke zum Abschied. »Am Sonntag früh um acht braucht der Verein das Auto zurück. Ein Wettkampf steht an.«

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