Antisemitismus als koranisches Erbe?

Abdel-Hakim Ourghi sieht im Bild der Juden im Koran die Ursache für den Hass auf Israel heute

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein muslimischer Pilger liest zu Beginn der jährlichen Hadsch-Pilgersaison den Koran.
Ein muslimischer Pilger liest zu Beginn der jährlichen Hadsch-Pilgersaison den Koran.

Wie interessant!», spricht mich im ICE ein älterer Herr auf das Buch an, das ich lese: «Die Juden im Koran». – «Haben Muslime und Juden früher nicht eher gut zusammengelebt?», fragt er weiter. Dieser verbreiteten Ansicht widerspricht Abdel-Hakim Ourghi, der den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik in Freiburg im Breisgau leitet. Für eine säkularisierte Reform des Islam eintretend, gehört er zu den Mitbegründern der liberalen Moschee der Anwältin Seyran Ates in Berlin. In seiner Heimat Algerien hatte der 1968 geborene Autor nicht nur in islamistisch geprägten Moscheen, sondern auch in dem von Islamisten unterwanderten Bildungssystem ein stark antisemitisches Bild der Judenheit und Israels vermittelt bekommen. Erst im persönlichen Kontakt mit Juden in Europa befreite er sich davon. Sein Buch scheint den in Medien verbreiteten Diskurs über einen Antisemitismus bei Menschen mit islamischem Hintergrund zu bestätigen, der womöglich ebenso tief verankert sei wie der europäische, speziell der deutsche Antisemitismus.

Ourghi schildert und interpretiert die im Koran überlieferten blutigen Auseinandersetzungen, die die ersten Muslime mit jüdischen Gemeinschaften führten und die Invektiven (Schmähungen) Mohammeds gegen die Besiegten. Dem 624 u.Z. mit einer kleinen Schar von Anhängern aus Mekka nach Medina geflohenen Propheten gelang es, die dortigen Polytheisten zum Islam zu bekehren und zur Anerkennung seiner Person als politischen Führer zu bewegen. Da sich die medinensischen Juden verweigerten, kam es zu grausamen Abrechnungen mit ihnen und anderen jüdischen Stämmen. Die reiche Oase Haibar ergab sich nach acht Wochen Belagerung und Kampf.

Unterbelichtet bei Ourghi ist, dass für Mohammed die Polytheisten die Hauptfeinde blieben, denen er kein Daseinsrecht mehr zugestand. Nichtkonvertierten Christen und den überlebenden Juden gab er den Status von «Schutzbefohlenen». Ihre heiligen Bücher sah er weiterhin als Vorläufer der islamischen Offenbarung an, die allerdings fehlerhafte Interpretationen provoziert hätten.

Dass es mit den ebenfalls im alten Arabien lebenden Christen nicht zu so wuchtigen Auseinandersetzungen kam, erwähnt Ourghi zwar, ohne – wie die meisten heutigen islamischen Theologen – die wichtige, auf der Hand liegende Erklärung zu liefern: Mohammed selbst muss aus christlichem Milieu gestammt haben, sonst hätte er nicht die reiche Witwe Khadidja heiraten können, mit deren christlichem Onkel er – laut Überlieferung – diskutiert haben soll. Es ist wichtig zu verstehen, dass er ursprünglich die beiden bereits monotheistischen Religionen zusammenführen und die mehrheitlich noch polytheistischen Stämme unter deren Dach holen wollte, um eine Gegenmacht zu Byzanz und den ebenfalls an der Arabischen Halbinsel interessierten Persern aufzustellen. Daher stützt sich der Koran sowohl auf die Thora als auch auf das Evangelium. Von letzterem übernahm er den Universalismus.

Jesus wird im Koran als Prophet und die dort viel häufiger als im Neuen Testament erwähnte Maria als Prophetin anerkannt. Als eine der Referenzen an das Judentum, dessen Monotheismus konsequenter als der christliche war, ist anzusehen, dass Jesus abgesprochen wurde, Gottes Sohn zu sein. Mohammed selbst bezeichnete sich als Propheten, aber zugleich durch und durch Mensch. Nach den Kämpfen mit den jüdischen Gemeinschaften änderte er einen Teil der zunächst dem Judentum entliehenen Riten, wie die Gebetsrichtung nach Jerusalem, das allerdings auch für Muslime ein heiliger Ort blieb. Das Gebet musste nun in Richtung Kaaba ausgeführt werden, die zum Bauwerk Abrahams erklärt wurde. Der Islam avancierte zur dritten selbstständigen monotheistischen Religion des Nahen Ostens.

Weil der Koran bestimmt hatte, dass die «Schutzbefohlenen» im Unterschied zu Muslimen Steuern zahlen mussten, waren Mohammeds Nachfolger, die weite Gebiete des Nahen Ostens und Nordafrikas eroberten, weniger eifrig beim Bekehren. Dass die Übergabe der Steuern mit Unterwerfungsgesten einhergehen sollte, brachte einen Teil der späteren islamischen Herrscher dazu, sie zu einer entwürdigenden Zeremonie zu machen. Auch andere Diskriminierungen wurden eingeführt wie besondere Kleidungsvorschriften. Für Juden wurden honigfarbene oder gelbe Stoffe vorgeschrieben, was der von den Nazis eingeführte gelbe Stern wieder aufnahm.

Am historischen Kern dieser Überlieferungen besteht kein Zweifel. Völlig unakzeptabel ist jedoch, dass Ourghi diskriminierende Verhältnisse im frühen und mittelalterlichen Islam mit der Elle demokratischer Ideale von heute misst. Als wenn es in den tempi passati irgendwo auf der Welt dauerhaft gleiche Rechte für ethnische und religiöse Minderheiten gegeben hätte! Angemessener wäre gewesen, zumindest die antijüdischen Invektiven Mohammeds mit denen des Martin Luther zu parallelisieren.

Ourghi meint bezüglich der Haltung von Muslimen gegenüber Juden heute, die meisten würden die Hassparolen des Korans auf den israelischen Staat und dessen Bevölkerung übertragen. Wenn Sprechchöre auf antiisraelischen Demonstrationen mehrfach «Haibar» (Feldzug) skandieren, werde historisch ununterbrochener religiös-essentialistischer Antisemitismus revitalisiert. Diesem würden letztlich auch Muslime frönen, die das Zusammenleben mit den Juden verklärten, als man friedlich zusammengelebt habe und auch Juden hohe Staatsämter unter muslimischer Herrschaft bekleideten. Bei diesen Muslimen herrsche die Tendenz, Gründung und Bestand des israelischen Staates als undankbare jüdische Replik auf angeblich gute alte Zeiten zu diffamieren.

Laut Ourghi war die Gründung Israels und die Vertreibung von 750 000 Palästinensern zwischen 1947 und 1949 kein Grund, sondern höchstens ein «Brandbeschleuniger» für den ewig ungebrochenen Antisemitismus der Muslime. Die von ihm an Muslime gerichtete Forderung, sich ein für alle Mal von dem die Juden betreffenden koranischen Erbe loszusagen, trägt nicht zur Konfliktberuhigung bei, wenn sie nicht ergänzt wird durch die Forderung an viele Juden und Israelis, sich vom Erbe der Thora zu distanzieren, das sie angeblich ermächtigt, den ihnen von Gott versprochenen Landstrich Palästina in Besitz zu nehmen. Zumal die Thora auch Gewalt gegen andere dort lebende Gemeinschaften rechtfertigt. Die Konflikte wird man nur lösen, wenn man sie nicht wie Ourghi vor allem als religiösen, sondern als Territorialkonflikt erkennt. Die Revitalisierung des alttestamentlichen und koranischen Feindbildes ist nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung. Die Gründung des Staates Israel war unabdingbar, verlief aber ohne Berücksichtigung der legitimen Rechte der Palästinenser.

Eine Engführung ist auch Ourghis Darstellung des historischen Verhältnisses von Muslimen und Juden in Algerien. Mit der Fokussierung auf die die Juden betreffenden Koranpassagen geht er von deren permanenter Unterdrückung durch die Muslime aus. Der Historiker Mustafa Lacheraf hat jedoch gezeigt, dass unter der seit 1519 bestehenden osmanischen Herrschaft nicht nur Juden, sondern auch die algerischen Araber und Berber schwer diskriminiert wurden, obwohl sie Muslime waren. Nach dem Motto «Teile und herrsche» verlieh der französische Kolonisator den algerischen Juden 1871 die vollen staatsbürgerlichen Rechte, wodurch sie – anderes als Muslime – Zugang zum Bildungssystem der Europäer erhielten und sich sozial entwickeln konnten, ohne ihre Religion aufgeben zu müssen. Den muslimischen Aufstand, der 1871 vergeblich dieselben Rechte forderte, erwähnt Ourghi nicht, sondern behauptet schlicht, die Muslime seien auf die Juden «neidisch» gewesen. Unerwähnt bleibt, dass die mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regierung im Oktober 1940 die algerischen Juden wieder zu «Indigenen» erniedrigte, was erst die Alliierten rückgängig machten. Und anders als Ourghi schreibt, wurden die Juden bei der 1962 erlangten Unabhängigkeit nicht «vertrieben», sondern sie flohen mit den eineinhalb Millionen Algerienfranzosen, die sich keine Zukunft ohne die auf dem hierarchischen Kolonialsystem beruhenden Privilegien vorstellen konnten.

Es war die Vertreibungspolitik Israels, die antisemitische Haltungen in Algerien aufleben ließ. Aber weder Politiker noch Medien ziehen religiöse Motive heran, um die Besatzungspolitik zu kritisieren. Anders allerdings islamistische Prediger, deren Propaganda bis in die Schulen wirkt und der kaum Wissen über die Weltgeschichte des Antisemitismus entgegengesetzt wird. Das wiederum verurteilt Ourghi zu Recht.

Abdel-Hakim Ourghi: Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen. Claudius, 264 S., geb., 26 €.

Die Gründung des Staates Israel war unabdingbar, verlief aber ohne Berücksichtigung der legitimen Rechte der Palästinenser.

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