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Menschenzoo bei Olympia

Vor 120 Jahren gehörten »Anthropologische Tage« noch fest zum Programm der Spiele

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Bei Olympia in Paris diente das Grand Palais als Wettkampfort. Im Jahr 1900 wurden dort rassistische Völkerschauen abgehalten.
Bei Olympia in Paris diente das Grand Palais als Wettkampfort. Im Jahr 1900 wurden dort rassistische Völkerschauen abgehalten.

Ein Mann indigener Herkunft steht barfuß auf einem sandigen Feld und schleudert einen Speer. Sein Oberkörper ist frei, seine Hüfte wird von einem Tuch bedeckt. Um ihn herum stehen weiße Männer in dunklen Anzügen. Sie starren den Speerwerfer an und wirken skeptisch.

Dieser »Wettkampf« gehörte am 12. und 13. August 1904, also vor 120 Jahren, zum Rahmenprogramm von Olympia in St. Louis. Es waren die »Anthropologischen Tage« bei den Spielen im US-Bundesstaat Missouri. Oder wie es die Organisatoren ausdrückten: »Das erste sportliche Treffen, an dem ausschließlich Wilde teilnehmen«. Die Organisatoren wollten zur Schau stellen, dass Schwarze und indigene Menschen nicht nur geistig, sondern auch körperlich minderwertig seien gegenüber den Weißen.

Die dritten Olympischen Spiele der Neuzeit waren 1904 an die Weltausstellung von St. Louis angebunden. Zu jener Zeit gehörten »Völkerschauen« in Nordamerika, Europa und Japan fest zum Unterhaltungsprogramm – nicht nur bei Weltausstellungen, sondern auch bei Zirkussen, in Zoos und auf Jahrmärkten. In der Stadt am Mississippi wurden angeblich authentische »Eingeborenendörfer« für 3000 indigene Menschen gebaut. Viele von ihnen wurden seit Jahren von einem »Menschenzoo« zum nächsten gebracht.

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»Anthropologische Tage« bei Olympia

Die Organisatoren der »Anthropologischen Tage« rekrutierten in diesen Dörfern rund 100 Männer für ihre Schaukämpfe, aus Patagonien, Zentralafrika und den Philippinen. Die Indigenen nahmen im Kugelstoßen, Laufen oder Weitsprung teil, aber auch, wie es hieß, in »wildnisfreundlichen« Disziplinen: im Baumklettern, Tauziehen oder Bogenschießen. »Die Gastgeber schufen einen manipulierten Wettkampf«, sagt der US-amerikanische Autor Jules Boykoff, der das Thema seit Jahren erforscht. »Sie erklärten den Teilnehmern die Regeln nur auf Englisch. Und sie ließen ihnen keine Zeit zur Vorbereitung.«

Boykoff beschreibt in seinem Buch »Power Games« auch dieses Detail der »anthropologischen Tage«: Bei einem Laufwettbewerb warteten einige Teilnehmer indigener Herkunft auf ihre langsameren Kollegen. Es ging ihnen nicht ums Gewinnen, sondern sie wollten gemeinsam und solidarisch ins Ziel kommen. Boykoff sagt: »Für die Organisatoren war das eine Bestätigung ihrer Vorurteile – für die Rückständigkeit der sogenannten ›Wilden‹.«

Die Organisatoren der Olympischen Spiele 1904 arbeiteten mit Anthropologen der Weltausstellung zusammen. Die Forscher konnten sich so teure Reisen auf andere Kontinente ersparen. Stattdessen vermaßen und kategorisierten sie die Teilnehmer direkt vor den Schaukämpfen. Mit ihren pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen und Fotografien wollten die Eliten ihr Konzept der »Menschenrassen« rechtfertigen, betont Tahir Della von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland: »Mit diesen konstruierten Lebensrealitäten indigener und schwarzer Menschen wollten sie zeigen, dass der globale Süden angeblich unterentwickelt ist. So wollten die europäischen Kolonialmächte die weitere Ausbeutung rechtfertigen.«

Sport als Teil des Kolonialismus

In der Hochphase der »Völkerschauen« zwischen 1875 und 1940 wurden weltweit laut Schätzungen rund 25 000 Schwarze und indigene Menschen »ausgestellt«. Anfangs wurden viele von ihnen verschleppt. Später wurden sie mithilfe von Agenten, Tierhändlern und Konsulaten »angeworben«. Die »Völkerschauen« erreichten oft ein Millionenpublikum und erzielten hohe Gewinne, auch mit sportlichen Schaukämpfen.

Die Kolonialzeit war auch eng mit der Entwicklung des modernen Sports verknüpft. Funktionäre aus jener Zeit wie der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Pierre de Coubertin oder Fifa-Präsident Jules Rimet wollten Menschen in Afrika und Asien mithilfe des Sports »zivilisieren«. Ihre idealisierenden Reden von »Völkerverständigung« – stets aus der eurozentrischen Perspektive – wirken bis heute nach. Und das gilt auch für Schaukämpfe wie die »Anthropologischen Tage«, sagt Tahir Della: »In aktuellen Erdkundebüchern oder Geschichtsbüchern, in denen es um den afrikanischen Kontinent geht, sehen wir oft noch die Darstellung von Hütten und Wildnis, aber nicht von vielen Menschen. Eine Verzerrung der Wirklichkeit.«

In den Ländern ehemaliger Kolonialmächte, in Großbritannien, Frankreich oder Portugal, steht die Aufarbeitung von Sklaverei und Ausbeutung immer noch am Anfang. Auch Sportverbände wie das IOC oder die Fifa schauen nicht selbstkritisch zurück. Eine Folge: mangelndes historisches Wissen in den Gesellschaften.

Der Schmerz der Nachfahren

Ein Beispiel: Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris feierte sich Frankreich gerade als Nation der Vielfalt und Hochkultur, mit spektakulären Bildern von historischen Gebäuden. Doch Expertinnen wie die in London lebende Journalistin Shahla Omar, die sich intensiv mit der postkolonialen Geschichte befassen, sahen etwas anderes: Die Sängerin Axelle Saint-Cirel sang während der Eröffnungsfeier die französische Hymne, sie stand dabei auf dem Dach des Grand Palais. »Das sah wunderschön aus, zumindest oberflächlich betrachtet«, sagt Omar. »Was viele nicht wissen: Der Grand Palais wurde für die Weltausstellung im Jahr 1900 gebaut. Damals wurden dort ›Völkerschauen‹ abgehalten. Dort wurden Menschen aus den Kolonien erniedrigt.«

Etliche indigene Menschen, die bei den Olympischen Spielen 1904 in St. Louis »ausgestellt« wurden, kehrten übrigens nie wieder nach Hause zurück. Ihre Leichen wurden untersucht und auch in Museen ausgestellt. So dauert der Schmerz ihrer Nachfahren weiter an.

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