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- 25 Jahre Bologna-Reform
Bologna: Die vollständig verwaltete Universität
25 Jahre nach der Bologna-Reform bieten die Hochschulen vor allem »Organisierte Halbbildung«. Der Fokus liegt auf Wettbewerb, Konkurrenz und Effizienz
Wer ein Theaterstück zur Hälfte aufführt, realisiert nicht die Hälfte seines Gehaltes, sondern lässt es sinnbefreit verklingen. So will der Vertreter der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno seine »Theorie der Halbbildung« verstanden wissen. Denn sie ist keine verkürzte, keine halbe Version von Bildung, sie ist ihre Verkümmerung – und heute im neoliberalen Universitätssystem nicht nur allgegenwärtig, sondern ihrer Form nach vor allem organisiert: im Bildungssystem selbst, in der Struktur und Ordnung der Universitäten, in Inhalt und Gestaltung des Studiums, im Inneren der Studierenden.
Schon 1959 sah Adorno Halbbildung als charakteristische »Signatur des Zeitalters«. Seitdem sind die Bildungssysteme einem grundlegenden Wandel hin zu einer neoliberalen Struktur unterzogen worden, der für das Studium seinen Höhepunkt in der Bologna-Reform erreichte. Was spätestens mit der Reform wortwörtlich verkauft wurde, ist Bildung in ihren viel zitierten und wenig praktizierten Ansprüchen der Autonomie, Mündigkeit und Vernunft, die aus der Zeit der Aufklärung stammen. Adorno ging nicht nur von einem Nichteinlösen der Ansprüche aus, sondern auch davon, dass Aufklärung nie ihrem eigenen Ideal entsprach. So konnte sie nie zu einer von Zwecken befreiten Bildung führen – auch wenn sie dorthin hätte führen können. Die Gegenwart verwehrt uns wahre Bildung; der Konjunktiv lässt ihre Existenz denkbar sein und beherbergt ihre eigene Emanzipation.
Uneingelöste Aufklärung?
Dieser Text stellt (in gekürzter Version) den Versuch dar, Adornos »Theorie der Halbbildung« zu aktualisieren und sich seinem Verständnis von Bildung anzunähern. Dabei ist er kein Reformpapier, keine Lösung, keine vollständige Analyse oder die Antwort auf eine Krise. Er ist der Versuch, sich der Realität von Studierenden anzunähern. Dafür benötigt es des Blicks auf die aktuelle Entwicklung von Bildung und den Ort, in dem die Ideale wie Autonomie und Freiheit noch immer rezipiert werden: die Universität. Sie prägt das Leben von Millionen Menschen. Die Organisation des Studiums ist heute entscheidend durch den 1999 angestoßenen Bologna-Prozess bestimmt, der von Bildungsminister*innen aus ganz Europa beschlossen und noch immer auf nationalstaatlicher Ebene umgesetzt wird.
Die Bologna-Reform hat das studentische Individuum zu einem in seine Kompetenzen fragmentiertes gemacht, das entlang von Leistungspunkten und Prüfungen lernt. Die traditionellen Ansprüche der Bildung sind zu einem Pausbild ihrer Bedeutung verkommen, heißt Vernunft im Studium heute doch die effiziente Planung der Karriere und Freiheit, zwischen Studiengängen, zwischen Veranstaltungen zu wählen oder Prüfungen in das nächste Semester zu schieben. Eine Scheinfreiheit – führen diese Entscheidungen doch immer direkt zu Belohnung oder Bestrafung durch die Universität oder die Gesellschaft. Wer zu lange studiert, der*dem wird »Faulheit« unterstellt, der*dem wird die finanzielle Unterstützung des Staates entzogen. Das ›eigene‹ Versagen, das Nicht-Können, Nicht-Wollen, die schlechte Note wie der falsche Studiengang sind in dieser Logik nie strukturell zu begründen; das gilt als Ausrede. Sie sind individuell zu verorten, die Verantwortung trägt der einzelne Mensch – stehen ihm doch alle Türen offen, flüstert die Welt. Halbbildung ist ein zu erwerbender Wert geworden, der durch Abschlüsse, Zertifikate und Auszeichnungen scheinbar allen Menschen zugänglich ist. Ihr neoliberales Credo ist: Jede*r ist ihres*seines eigenen Glückes Schmied*in. Die Ökonomisierung der Universität greift in alle Subjekte und Räume hinein. Und der enge Korridor des Studiums lässt heute (fast) keinen Platz, die eigene Persönlichkeit, individuelle Fähigkeiten und Interessen, getrennt von Zwecken und Prestige zu finden. Aber war dafür jemals Platz?
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Bildung führe – so das Ideal der Aufklärung – zu vernünftigen Menschen, die Freiheit für Einzelne und Autonomie für die Gesellschaft erschaffen. Ein Anspruch, den Bildung nicht nur bisher nicht einlösen konnte, sondern in kapitalistischen Gesellschaften nie wird einlösen können. Zurück geht dieses Ideal auf das in der Aufklärung entworfene vernunftgeleitete Individuum, das sich an Schulen und Universitäten bilden soll. In dem Werk »Dialektik der Aufklärung« zeigen Adorno und sein Weggefährte Max Horkheimer auf, dass Aufklärung nie ihre eigenen Ansprüche einlöste. Sie ermöglichte den Menschen keine wirkliche Freiheit oder Autonomie. Während in der Zeit vor der Aufklärung das Schicksal die Menschen durch unbekannte Kräfte gelenkt wurde, der Zugriff auf die Welt aber durch Rituale, Bräuche und Traditionen erklärt und geordnet war, taten die Prinzipien der Aufklärung letztlich dasselbe: Menschen gaben auf, sich Göttern unterzuordnen, wollen sodann aber gottgleich werden und umgriffen mit Härte die Welt. Sie glaubten, sich von der Herrschaft des Schicksals zu befreien und begannen zu rationalisieren, zu bemessen, zu erfassen, nutzbar und nützlich zu machen. Mit ihrem Wissen erhoben sie sich über die Natur, um sie zu beherrschen. In diesem Prozess steckt die Erkenntnis, dass die eigene Selbstwerdung mit Machtgewinn verbunden ist.
Bildung in der Konkurrenzgesellschaft
Und so geschah mit Bildung, was ihrer Wahrheit widerspricht: Sie begann, der Hierarchisierung von Menschen in Gesellschaften zu dienen und nutzt dabei den Trick der Integration. Als Halbbildung schafft sie subjektiv Zugänge, ermöglicht den gesellschaftlichen Aufstieg über die Konsumierbarkeit von Bildungsgütern, um den Anschein der Bildung zu wahren. Diese Güter sind nicht lebendig, sondern dem Marktmechanismus unterworfen und produzieren nur noch die Lehre vom Ergebnis; eine versteinerte Bildung. Sie werden als Summe ihrer selbst angehäuft und machen die Konsument*innen zu Ohnmächtigen, denen wiederholt jede Autonomie verweigert wird. Das Individuum hingegen glaubt, seine eigene Integration sei gelungen, man hätte es »geschafft«. Es identifiziert sich mit den Bildungsgütern, die ihm durch Abschlüsse, Auszeichnungen, Posten gehören.
Dabei sind Integration und Identifikation zwei Momente desselben Prozesses: Während dem Individuum seine Integration vorgegaukelt wird, identifiziert es sich mit dem, was Bildung zu sein scheint, lernt auswendig, sammelt Informationen, folgt dem Prinzip »mehr ist besser«. Gleichzeitig wird ihm wahre Bildung verwehrt, denn das »Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind«, wie Adorno schreibt.
Den Menschen ist dieser Betrug nicht greifbar, wenn auch spürbar; die Diskrepanz zeigt sich in der Ohnmacht gegenüber der Härte der Strukturen, die zur Anpassung zwingen. Und diesem Druck der Anpassung sind nicht nur die Menschen ausgeliefert, sie fügen sich ihn gegenseitig disziplinierend zu. So erheben sich solche mit höheren Bildungsgraden über die, die kein Abitur, kein Studium, keine Weiterbildung, kein Zertifikat haben, strafen für das Verwechseln von Fachwörtern oder weniger Punkten im Quiz. Halbbildung personalisiert ihre eigenen Auswirkungen und verschleiert die Verantwortung der Strukturen, also der objektiven, scheinbar nicht zu greifenden Verhältnisse, und bietet stattdessen zur Bewältigung der Realität nur Schablonen an.
An der Universität finden sich alle beschriebenen Entwicklungen wieder: Die steigende Zahl von Studierenden wird als gelungene Integration betitelt, der Wettbewerb zwischen und innerhalb der Fächer, zwischen und innerhalb der Institutionen, zwischen und innerhalb der Menschen wird als Ansporn, nicht als ökonomischer Zwang interpretiert, einem akademischen Abschluss hängt immer noch die Wahrnehmung eines intellektuell-kulturellen, damit »höherwertigen« Wissens an. Menschen wird ihre eigene Be- und Entwertung als Bildung verkauft. In Wahrheit gehen berufliche Ausbildung, die dem Zweck dient, Menschen für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren, und universitäre Halbbildung, die dem Zweck der scheinbaren Integration in die Sphäre der Autonomie dient, Hand in Hand.
Die Universität gilt immer noch als Ort, an dem sich Menschen zu mündigen und vernünftigen Individuen entwickeln können. Dem Studium hängt der Ruf nach, sich in dieser Zeit entfalten, finden und erfahren zu können. Ältere Generationen wie feuilletonistische Debatten verweisen gerne auf ein verklärtes und verklärendes ›Früher‹, was nie mehr als eine Fantasiegestalt war. Was sich dennoch geändert hat, ist das Ausmaß der Organisation; das Organisierte der Halbbildung ist auf drei Ebenen zu finden: in den Strukturen, in denen sich Studierende bewegen; in den Inhalten, die sie in Seminarplänen und Vorlesungsskripten vorfinden; in ihrem eigenen Inneren. Diese Dreiteilung suggeriert eine Unabhängigkeit der Ebenen, die nicht existiert. Sie können beschrieben, per Aufzählung erfasst, gleichzeitig aber nicht begriffen werden. Die Struktur der Universität ist durch ihren in jedem Moment bestimmenden Zweck gekennzeichnet, sie ist immer zielgerichtet organisiert. Die Räume werden gebucht, belegt, zugeteilt; heraus geschmissen wird, wer sie betritt und nicht angemeldet ist.
Der Charakter des Campus ist verwaltet, besiedelt durch Dienstleistungen – er wird geplant, bewacht, bekocht und sauber gehalten. Aber die Ordnung des Ortes ist nur die Oberfläche. Denn auch die Ordnung der Universitäten untereinander ist organisiert: Sie konkurrieren länder- und kontinentübergreifend um Gelder, Prestige und Exzellenz, kämpfen um neue Studierende und renommierte Professor*innen, initiieren Preise und Auszeichnungen, geben sich Leitbilder und schalten Werbung. Diese – so die wissenschaftliche Beschreibung, der Universitäten nicht einmal widersprechen – ›unternehmerische Hochschule‹ folgt der Idee, dass Studierende Kund*innen sind und bietet ihnen ein Rundum-sorglos-Programm an. Das »Career-Center« informiert, welche Karrieren anzustreben sind, welche ›Skills‹ dafür erlernt und verlernt werden müssen und vergibt Visitenkarten an die aussichtsreichsten Kandidat*innen. Ohnehin gibt es für alles ein Programm: zum Austausch, für die Psyche, für bessere Planung, für Frauen, für Talente. Um zu wissen, wo Studierende gerade stehen und was ihr Ziel sein sollte, teilt die Universität ihr Leben in den Student-Life-Cycle ein. Damit sollen Studierende unauffällig durchs Studium gleiten, die Universitäten weniger kosten, ihre Abschlüsse aber vorzeigbar sein. Diese durchdringende Organisiertheit der universitären Struktur ist selbst Ergebnis der Halbbildung, die rationalisiert, plant und reglementiert.
Studierende werden Kunden
Die Idee, dass Studierende wie Kund*innen zu behandeln sind, endet noch lange nicht bei den offensichtlichen Dienstleistungen der Universität. Sie ist erst recht im Studium selbst zu erkennen: Die Inhalte werden portioniert und entlang des Kriteriums ›prüfungsrelevant‹ sortiert. Hunderte von Folien sammeln sich auf den Festplatten der Studierenden, während die darauf zu lesenden Definitionen und Formeln durch »Bulimie-Lernen« nur für kurze Zeit in den Köpfen bleiben. Das Studium ist streng geplant, festgehalten in Seminarplänen und Erinnerungs-Apps, kontrolliert durch das universitäre Qualitätsmanagement, das die Inhalte auf ihre Verwertbarkeit hin überprüft. Jede Entscheidung unterliegt detailliert durchgetaktet einem einzigen Zweck: Es gilt, das richtige Seminar zu wählen, die Module abzuschließen, die Punkte zu sammeln, den Abschluss zu erlangen. Und dabei immer den Erwartungen sowie der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein. Alles – so die Idee –, um das oberste Ziel zu erreichen: Lohnarbeit. Denn all die Mühen und Kosten des Einzelnen sind nur Teil der Gleichung, nach dem Studium den lang ersehnten und gründlich vorbereiteten Beruf ergreifen zu dürfen, der idealerweise auch noch die eigene Berufung ist. So ist der Erhalt des Zeugnisses nur der erste Schritt ins ›richtige‹ Leben – welcher Hohn, der Studierenden unterstellt, davor wären sie nicht mit dem ›richtigen‹, dem ›erwachsenen‹ Leben konfrontiert.
Wer all diese Regeln und Ansprüche bedenken und befolgen muss, ist dazu verdammt, sein Leben, sein Selbst in Präzision zu planen. So perfektionieren Studierende das Organisieren bis in ihr Innerstes. Ihr Maßstab für das gewissenhafte Studieren sind die ordentlich aufgereihten Stifte, Bücher mit Lesezeichen, säuberlich markierten Folien und beschrifteten Ordner auf den Laptops oder die in der Früh um fünf Uhr beginnenden ›Morgenroutinen‹. Während Videos mit Millionen Aufrufen zeigen, wie fleißig gelernt, unterstrichen, sortiert wird, die ›Bib-Bags‹ durchsichtig werden und so für alle Inhalt und Ordnung zur Schau stellen, ist der unter alledem liegende Kummer unsichtbar. Studierende verzweifeln in ihrem Inneren – abzulesen an den immer weiter steigenden Zahlen von psychisch erkrankten Studierenden. Doch auch die Psyche wird zum zu bewältigenden Umstand: Schlafen und Aufstehen, Lernen und Ordnen, Stress und Aufgaben – für alles gibt es eine Kategorie und Anlaufstelle.
Es ist (überlebens-)wichtig, dass Menschen Hilfe erhalten, um Unterstützung bitten können, sich an Expert*innen wenden können. Würde dies dem Einzelnen dienen, seiner*ihrer Gesundheit und Lebensbedingungen, wäre daran nichts auszusetzen. Aber die an der Universität angebotenen Anlaufstellen zielen auf die Anpassung der Studierenden, auf ihr Weitermachen, ihr Bestehen, ihr Funktionieren. Die Abbruchquoten dürfen nicht steigen, die Regelstudienzeit nicht überschritten werden, die Notenspiegel müssen vorzeigbar sein. Studierenden lastet die Gleichzeitigkeit an, als Kund*innen einen Service zu erhalten, der sie selbst zu funktionierenden Zahlen in den Bilanzen der Institutionen macht. Und darin dürfen sie kein Fehler sein. Also ist selbst das ›Versagen‹ in Abstufungen unterteilt: (Potenzielle) Studierende scheitern am Numerus clausus, der Aufnahmeprüfung, an den ersten Klausuren, dem dritten Versuch, den zu erreichenden Punkten, der falschen Anmeldung, den Abschlussprüfungen. Dadurch gibt es keine zu erreichende Sicherheit – jedes Semester, jeder Kurs, jede*r Dozent*in bestimmt aufs Neue über das eigene Scheitern oder Durchkommen, vielleicht sogar »Gewinnen«.
Das Organisierende rieselt von oben nach unten: die Struktur der Universität in die Gestaltung der Veranstaltungen in die Planung des Studiums in die Terminkalender der Studierenden; und es rieselt von unten nach oben: vom Erfolg der Studierenden zur Offenlegung der Noten Einzelner in die zu erfüllenden Vorgaben im Studium bis hin zur Bestplatzierung der Universitäten in den internationalen Rankings. Unsichtbar sind dabei ebenso die Zusammenhänge wie der Zwang, sich all dem zu unterwerfen. Das Individuum steht der Organisiertheit in Ohnmacht gegenüber, folgt dem Flüsterton der Zwänge, ohne diesen Gehorsam zu einer bewussten Entscheidung machen zu können. Sich herauszulösen, überhaupt nur etwas zu lösen, kostet. Manchmal ist der Preis fehlende Anerkennung, oft genug lauert dahinter die Gefahr, in finanzielle oder psychische Not zu geraten.
Erfolg statt Erfahrung
So ist das ständig überforderte, erdrückte Individuum in allem, was es ist, tut, sagt und anzieht, einem Wettkampf ausgesetzt. Das wirkt zerfressend; die Konkurrenz bestimmt die Oberfläche, das Aussehen, das Auftreten, den Ausdruck. Sie bestimmt das Innen, die Zweifel, die Schuld, die Scham. Das bedeutet, sich in einem Raum zu bewegen, dessen Regeln nie aufgeschrieben, nur mit Härte durchgesetzt werden. Bedeutet, sich gegenüber Menschen zu verteidigen, zu rechtfertigen, zu erklären, die keine Fragen stellen, aber von ihren Erfolgen, ihrer Herkunft, ihrer Erfahrung erzählen. Denn alles beherrschend ist der Vergleich, der ver-, be- und ausmisst: Die getrunkenen Milliliter auf den Flaschen in den Bibliotheken, die gelaufenen Schritte, die noch zu lernenden Karteikarten und Zettel, die zu absolvierenden Veranstaltungen, die übrig gebliebenen Versuche für das Bestehen der Klausur, die Fach- und Hochschulsemester, der Notendurchschnitt, die in Schritte unterteilte Karriere. Der Aufzählung steht der Erfolg, das Erreichte gegenüber. So bietet Halbbildung den Menschen eine Ersatzerfahrung an, anstatt die zerfallene Erfahrung der verhinderten Bildung offenzulegen, zu formulieren und veränderbar zu machen.
Dass Bildung keine Erfahrung anbietet, dass die Anpassung an ihre Organisiertheit das Rezept zum Durchkommen ist, ist den Universitätsleitungen selbst nicht bewusst. Sie schmücken sich mit Leitbildern, die Autonomie und Partizipation versprechen, während die – zahlenmäßig mit Abstand größte – Gruppe der Studierenden in den Gremien durch die professorale Mehrheit überstimmt wird. Sie erzählen von der Bildung mündiger Bürger*innen und kritischer Studierender, die sich in endlosen Feedback-Schleifen wiederfinden oder als Protestierende von ihrer eigenen Universität per Polizeieinsatz geräumt werden. Sie deklarieren sich als divers, während sie Geschlechterungerechtigkeiten von der Führungsetage bis in die von ihnen beanspruchten Dienstleistungsunternehmen reproduzieren oder ihnen ›Diversität‹ als Persilschein für diskriminierende Forschung dient. So tragen sie als Institution zur Veränderung des Verständnisses großer Begriffe wie Wahrheit, Freiheit und Kritik bei, verschieben Diskurse, umgehen Verantwortung, ersticken Widerspruch. Die neoliberale Universität, gemanagt nach Zahlen, ausgerichtet auf Ziele, ist in ihrem eigenen Handeln und Wirken selbst von Halbbildung durchzogen.
Kritische Reflexion als Ausweg
Und hier zeigt sich wie an vielen Beispielen das fast unmöglich zu Greifende der »Organisierten Halbbildung«. An diesen Begriff heranzukommen, unterwirft jeden Versuch seinerseits wieder den Lehren der Halbbildung, denen er ausweichen will: das Definitorische, das Linear-kausale, die Idee des Ursprungs. Hier muss etwas begriffen werden, dessen Begreifen aber in denselben Schubladen geschieht, die es überwinden will, während sein Wesen unaufhörlich nach einem greift. Das zeigt, mit welcher Übermacht das Netz der Halbbildung uns umspannt.
Um der Bildung, ihrem verlorenen Anspruch und ihrer Realität heute dennoch nahezukommen, ist festzuhalten: Sie hat »keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde«, wie Adorno schreibt. Hören wir also denen zu, denen sie widerfährt: den Studierenden. Sie, die sie viel zu selten im Zentrum ihrer eigenen Erzählungen stehen, können beschreiben, was die Realität von Millionen von Menschen ist, die je ein einzelnes und ganzes Leben leben. Sie können das Wesen der Halbbildung greifbar machen, um darin den Möglichkeitsgehalt von Bildung zu finden – und an dem, was ist, das ausmachen, was sein könnte.
Eine längere Fassung dieses Artikels erschien in: Clara Gutjahr/Lisa Marie Münster/Lukas Geisler/David Morley/Moritz Richter (Hg.): »Organisierte Halbbildung. Studieren 25 Jahre nach der Bologna-Reform«. Transkript, 418 S., 39 €. Eine PDF-Datei des Buches kann auf der Verlags-Webseite kostenlos heruntergeladen werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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