Die Frauen setzen bei der Tour de France neue Maßstäbe

Kasia Niewiadoma gewinnt nach einem dramatischen Finale in l’Alpe-d’Huez

  • Tom Mustroph, l’Alpe-d’Huez
  • Lesedauer: 4 Min.
Mehr Spannung geht nicht: Nur vier Sekunden trennen nach fast 1000 Kilomerten die Siegerin Kasia Niewiadoma (r.) und Titelverteidigerin Demi Vollering.
Mehr Spannung geht nicht: Nur vier Sekunden trennen nach fast 1000 Kilomerten die Siegerin Kasia Niewiadoma (r.) und Titelverteidigerin Demi Vollering.

Der Radsport der Frauen setzt neue Maßstäbe. Nur vier Sekunden trennten nach einem packenden Finale über die 21 Kehren von l’Alpe-d’Huez die Siegerin der Tour de France Femmes, Kasia Niewiadoma, von der Zweitplatzierten Demi Vollering. Nur weitere sechs Sekunden lag die Drittplatzierte des Gesamtklassements, Pauliena Rooijakkers, zurück.

Ein Podium, das nach knapp 1000 gefahrenen Kilometern nur zehn Sekunden auseinanderliegt – das ist in den Datensätzen der mehr als 100-jährigen Geschichte des männlich dominierten Radsports nicht mal mit der Künstlichen Intelligenz von ChatGPT zu finden. Favorit ist die Frankreich-Rundfahrt der Männer aus dem Jahr 1989, als Greg Lemond nach sechs Etappen fünf Sekunden vor Laurent Fignon und weitere 20 vor Thierry Marie lag. Nach 21 Etappen trennten Lemond und Fignon am Ende acht Sekunden; 3:34 Minuten hinter dem Sieger aus den USA und dem Franzosen lag der Spanier Pedro Delgado auf dem dritten Rang.

Niewiadoma, Vollering und Rooijakkers sorgten jedoch nicht nur für ein neues Statistikspektakel. Das Trio wechselte auf der Schlussetappe am Sonntag auch mehrmals die virtuelle Gesamtführung. Eine frühe Attacke von Titelverteidigerin Vollering 55 Kilometer vor dem Ziel eröffnete das rasante Finale. Schnell fuhr die Niederländerin einen Vorsprung heraus, der sie in der Gesamtwertung knapp vor die Polin Niewiadoma rücken ließ. An ihrem Hinterrad klebte allerdings noch Landsfrau Rooijakkers. Die war vor dem Start zwei Sekunden besser platziert als Vollering und beschattete mit Bravour die große Favoritin. Fiel sie an einem Anstieg mal zurück, so biss sie sich doch wieder heran.

Als das Oranje-Duo die berühmte Holländerkurve in l’Alpe-d’Huez erreichte, die freilich nur sehr spärlich besetzt war, schien es, als würden die Bonussekunden aus dem Tagessieg zwischen ihnen beiden auch über den Gesamtsieg entscheiden. Doch Niewiadoma mobilisierte dahinter alle Kräfte und verkürzte im Fernduell auf jene vier Sekunden, die auch nach Einrechnung aller Bonifikationen als Differenz übrig blieben.

Zum Herzrasen am Finaltag trug auch bei, dass sogar eine vierte Fahrerin im Verlauf der Etappe virtuelle Gesamtführende war. Bergkönigin Justine Ghekire aus Belgien lag als Teil einer Fluchtgruppe zeitweise mehr als zwei Minuten vor dem Feld. Am Ende vermischten sich Schweiß und Tränen. Demi Vollering weinte vor Enttäuschung. Sie haderte mit dem Sturz auf der fünften Etappe, der sie erst in Rückstand gebracht hatte und mit dem Zielfotoentscheid der vierten Etappe, nach dem ihr als Zweitplatzierter Bonussekunden fehlten. Und sie ärgerte sich über ihr eigenes Zögern am Tag zuvor in Le Grand-Bornand, als sie im Finale nicht früher angetreten war.

»Es gibt so viele ›Wenns‹: Wenn ich nach dem Sturz ein kleines bisschen schneller aufgestanden wäre, hätte das vielleicht gereicht. Wenn ich in Lüttich im Sprint Puck Pieterse geschlagen hätte, wären die vier Sekunden auch weg. Wenn ich in Le Grand-Bornand etwas früher angegriffen hätte, vielleicht auch«, erklärte Vollering selbst – und die Tränen schossen ihr dabei immer wieder in die Augen.

Die große Rivalin Niewiadoma badete hingegen in einem Meer aus Freudentränen. »Es ist einfach verrückt. Die ganze Etappe war eine Achterbahnfahrt«, blickte die 29-Jährige noch einmal zurück. Bei der Attacke von Vollering habe sie komplett ihr Selbstvertrauen verloren, gestand sie. Auf der Abfahrt vom Col du Glandon kam sie aber wieder zu Kräften. »Ich liebe Abfahrten, und ich konnte da meine Energie zurückgewinnen. Manchmal braucht man dafür nur einen Moment der Entspannung. Ich habe alles gegessen, was ich in meinen Taschen hatte, habe viel Flüssigkeit zu mir genommen, und dann habe ich mich wieder gut gefühlt und war bereit, um weiterzumachen«, erklärte sie.

Die Polin, die für das deutsche Team Canyon SRAM startet, war an dem von ihr selbst proklamierten »wichtigsten Tag meiner Karriere« der Schwere der Aufgaben gewachsen. Viele Jahre immer vorne dabei, aber lange Zeit ohne großen Sieg, scheint sie nach dem Gewinn der Gravel-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr auch mental auf einem neuen Niveau zu sein. Der Tour-Sieg ist ihr größter Erfolg. Er ist auch gut für Vielfalt in ihrem Sport. Denn erstmals gewann keine Frau aus den Niederlanden dieses Rennen. Und weil ihr Rennstall um den gebürtigen Eisenhüttenstädter Ronny Lauke in Leipzig ansässig ist, kann sich auch Ostdeutschland – mal wieder – als Toursiegergegend fühlen. Dieses Mal hoffentlich ohne Doping.

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