Ausprobieren und geduldig sein

Junge Menschen brauchen eine gute Berufsorientierung, damit sie einen Ausbildungsberuf finden, der zu ihnen passt

Was soll einmal aus mir werden? Für Jugendliche ist das eine wichtige Frage. Nur wenige wissen auf Anhieb, in welchem Beruf sie arbeiten wollen. Viele brauchen Unterstützung bei der Entscheidung.
Was soll einmal aus mir werden? Für Jugendliche ist das eine wichtige Frage. Nur wenige wissen auf Anhieb, in welchem Beruf sie arbeiten wollen. Viele brauchen Unterstützung bei der Entscheidung.

Es dauert nur ein paar Sekunden, dann hat Nadine Kimmel zumindest einen ersten Eindruck davon, wie es den drei jungen Männern körperlich geht, die da vor ihr sitzen. Mit routinierten Handgriffen hat die Krankenschwester, die bei einem Pflegedienst arbeitet, ihren Puls gemessen. Wie schnell es geht, wenn sie das tut, davon sind die Neuntklässler sichtlich beeindruckt. Sie alle lächeln breit.

Umso mehr fällt auf, wie nervös die Jugendlichen sind, als sie kurze Zeit später selbst mit der Manschette hantieren dürfen, die dabei hilft, diese wichtige Vitalfunktion zu bestimmen. Das Lächeln der Jugendlichen ist einem angestrengten Gesichtsausdruck gewichen. »Hast Du den Punkt?«, fragt Kimmel einen der Schüler, als der beginnt, nach einer bestimmten Region auf dem Arm seines Mitschülers zu suchen.

Der Gesichtsausdruck der drei Jugendlichen ist vielsagend. Auch sie sind Suchende, denen es schwerfällt, eine Entscheidung zu treffen, welche Ausbildung für sie die richtige ist. Die jungen Menschen werden in der Regelschule Steinbach-Hallenberg mit all den Fragen regelmäßig konfrontiert, die eine solche Entscheidung mit sich bringt. Auch wenn das anstrengend ist, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven müssen sie darauf Antworten finden.

Unternehmen kommen in die Schule

Deshalb erproben sich die drei Jugendlichen an diesem Tag nicht nur im Blutdruckmessen, sondern auch in anderen Tätigkeiten. Beispielsweise würzen sie Fleisch und schnuppern in verschiedene Handwerksberufe rein. Denn diejenigen, für die ein Beruf im Gesundheitswesen nichts ist, könnten gute Köche werden oder Tischler.

Außerdem tüfteln einige von ihnen. Ein paar Räume von den Blutdruckmessern entfernt sitzt ungefähr ein Dutzend Jugendliche in Zweierteams zusammen. Ihr Ziel ist es, aus ungekochten Spaghetti und einem Marshmallow einen Turm zu bauen. »Gleich sind 14 Minuten um«, sagt Sven Kettner, der bei einem Werkzeughersteller als Personalleiter arbeitet. Einige von ihnen werden nervös und fummeln hektischer an ihren Spaghetti und dem Schaumzucker herum. Der Gruppe ganz hinten stürzt der halbfertige Turm ein. »Wenn’s hilft, können die Spaghetti auch gekürzt oder geteilt werden«, sagt Kettner.

Das Konzept hinter dieser Übung ist, dass die Jugendlichen in einer bestimmten Zeit mit begrenzten Ressourcen eine Aufgabe lösen müssen. Wie im richtigen Leben also, wo viele Dinge zwar wünschenswert wären, aber die Geld- und Personalkapazitäten nur begrenzt sind. Dabei hilft im echten Berufsleben oft, was die Schüler auch hier bei Kettner oder Kimmel tun: sich selbst ausprobieren mit den Dingen, die zur Verfügung stehen. Immer wieder. Bis es klappt.

Das, was die 14- und 15-Jährigen hier tun, ist Teil ihrer Berufsvorbereitung. Schon bald werden viele von ihnen nämlich die Schule beenden, und dann steht für sie eine Richtungsentscheidung an. Insgesamt sechsmal pro Jahr für zwei Stunden haben Schüler derartigen Unterricht, der unter dem Schlagwort Talent Company im Stundenplan steht. Die Berufsorientierung nehme heute einen größeren Raum ein als in der Vergangenheit, sagt der stellvertretende Leiter der Schule, Jens Meißner. Damit reagiere die Schule auf Erfahrungen mit Schülern und Lehrern ebenso wie auf Rückmeldungen aus den Unternehmen in der Region.

»Die Kinder haben in der siebten, achten oder neunten Klasse oft überhaupt noch keine Idee, was sie nach der Schule machen wollen.«

Jens Meißner Stellvertretender Schulleiter der Regelschule in Steinbach-Hallenberg

Das Projekt ist zudem eine Reaktion auf den Arbeitsmarkt. Viele Unternehmen haben bekanntlich Nachwuchssorgen, ihnen fehlen Fachkräfte. Mit einer intensiven Berufsvorbereitung soll vorgebeugt werden, dass junge Menschen sich aus Unkenntnis über das, was ein Beruf ihnen abverlangt, für eine für sie unpassende Lehre entscheiden – und ihre Ausbildung dann enttäuscht abbrechen.

Der aktuelle Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit zum Ausbildungsmarkt beschreibt diese Lage schonungslos: So wurden dem Arbeitgeberservice der Agentur und den Jobcentern zwischen Oktober 2023 und Juni 2024 insgesamt etwa 480 000 Berufsausbildungsstellen gemeldet. Das sind vier Prozent weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres – was ein Ausweis dafür ist, wie sehr die Konjunktur noch immer schwächelt. Neben Kaufleuten im Einzelhandel und Verkäufern wurden bundesweit insbesondere Bürokaufleute, Lagerlogistiker sowie Auszubildende für verschiedene medizinische Berufe gesucht.

Diesen gemeldeten Ausbildungsstellen stehen aktuell nur etwa 383 000 Bewerber gegenüber, die über die Vermittlungsangebote der Agenturen und der Jobcenter bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle unterstützt werden. Auch wenn diese Daten das Geschehen auf dem Ausbildungsmarkt nicht vollständig abbilden, weil es auch Ausbildungsplätze gibt, die ganz ohne Zutun von staatlichen oder halbstaatlichen Stellen besetzt werden, so unterstreicht diese Lücke von knapp 100 000 Bewerbern doch die Personalnot vieler Unternehmen.

Um diesem Engpass auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken, ist es hilfreich, wenn die jungen Menschen, die eine Berufsausbildung antreten wollen, auch wirklich wissen, worauf sie sich einlassen. Das unterstreicht natürlich, wie wichtig eine effektive Berufsberatung ist. Die Regelschule in Steinbach-Hallenberg hat sich darauf eingelassen.

Den Raum für die Berufsorientierung hat die Schule in Zusammenarbeit mit der Strahlemann-Stiftung eingerichtet, die bundesweit derzeit 74 Schulen unterstützt. Neben Arbeitsplätzen, an denen unter anderem Bewerbungsschreiben erstellt werden, gibt es hier auch eine »Job Wall«, an der Unternehmen aus der Region ihre Ausbildungsberufe vorstellen.

»Die Kinder haben in der siebten, achten oder neunten Klasse oft überhaupt noch keine Idee, was sie nach der Schule machen wollen«, sagt Meißner schonungslos. Das liege daran, dass sie in der Regel nur wenige Berührungspunkte mit der Arbeitswelt hätten. Mal eine Schulstunde zur Berufsorientierung hier oder ein Tag der offenen Tür in einem Unternehmen dort sei zu wenig, um echte Einblicke zu erhalten, weiß Meißner. Hinzu komme, dass die Schule mit ihrem eigenen Personal nicht in der Lage sei, die nötige Orientierung zu geben. »Wir haben zu wenige Lehrer, um so was leisten zu können.« Talent Company funktioniere auch nur deshalb an der Schule, »weil die Unternehmen uns die Berufsorientierung quasi abnehmen«, gesteht Meißner ein.

Klarheit für die Richtungsentscheidung

Das Konzept von Talent Company sieht vor, dass Beschäftigte von verschiedenen Unternehmen den Jugendlichen Einblick in ihre Arbeit geben. Die Schüler müssen selbst entscheiden, in welche Branche sie eintauchen. Bewährt hat sich, dass sie das in kleinen Gruppen machen. Die Motivation der Einzelnen sei dann höher, als wenn sie in der Anonymität einer großen Gruppe untertauchen können, sagt Marie Burkhardt, die selbst auf die Regelschule in Steinbach-Hallenberg gegangen ist und inzwischen bei einem hiesigen Industrieunternehmen in der Buchhaltung arbeitet. Ein weiterer Vorteil daran ist: »In diesen kleinen Gruppen bleibt man als Unternehmen oft im Gespräch mit den Jugendlichen«, sagt Burkhardt. Erste Kontakte bestehen dann schon.

Dass die Jugendlichen oft noch gar keine Vorstellung davon haben, in welchem Beruf sie einmal landen werden, wie es der stellvertretende Schulleiter sagt, kann Burkhardt nicht bestätigen. »Es gibt in diesem Alter bereits Schüler, die sehr genau wissen, was sie können und wollen.« Allerdings hat auch sie festgestellt, dass tatsächlich nur wenige eine abschließende Vorstellung von ihrem beruflichen Lebensweg hätten. Umso wichtiger sei es, Schüler in diesem Alter immer wieder zu fragen, was ihre Interessen und Leidenschaften seien. Darüber sollten sie schon ein wenig Klarheit haben, ehe sie die Unternehmen besuchen, ein Praktikum machen oder in den Ferien dort arbeiten, sagt Burkhardt, die aber zuversichtlich ist. »Über Jahre hinweg kristallisiert sich Stück für Stück heraus, in welcher Branche jemand wahrscheinlich gut ankommen könnte. Berufsorientierung ist ein Prozess, der dauert sehr lange«, weiß sie.

Die drei jungen Männer, die mithilfe von Kimmel an diesem Tag ihren Blutdruck messen, wissen inzwischen immerhin, dass sie recht gesund sind. Einer von ihnen misst bei seinem Mitschüler einen Wert von »120 zu 70«, was so ziemlich dem optimalen Blutdruck für junge Männer entspricht. »Na da, super«, sagt Kimmel. »Und das nächste Mal macht ihr das bitte ganz alleine.«

Selbst wenn die drei, die hier vor der Krankenschwester sitzen, demnächst nicht mit einer Blutdruck-Manschette hantieren sollten: Auch damit wäre der Berufsorientierung gedient. Denn zu wissen, was man nicht kann, ist genauso wichtig wie das Wissen um die eigenen Stärken.

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